Reporter im "Land der Gleichzeitigkeiten"
Während es in türkischen Städten normal ist, dass unverheiratete Frauen eine eigene Wohnung mieten, gibt es ländliche Gegenden, in denen die Verhüllung Hochkonjunktur hat, meint die Publizistin Mely Kiyak. Insofern sei auch das Bild der Türkei in den deutschen Medien vielfältig. Und zwar völlig zu Recht.
Oft werde ich hier in der Türkei gefragt, ob man in Deutschland über die türkische Protestbewegung "richtig" berichte. Ich frage dann stets zurück, was mit "richtig" gemeint sei. In Deutschland wird viel, kontinuierlich und auf hohem Niveau geschrieben, erzähle ich. Aber "richtig"? Was heißt "richtig" berichten?
Unter den Artikeln entspinnen sich häufig hitzige Diskussionen in den Kommentarspalten. Schrieb ein Kollege, die Protestgemeinde sei überkonfessionell und überparteilich, wurden die Leser nicht müde, Beispiele von Demonstranten aufzuführen, die politisch oder religiös klar einzuordnen sind. Behauptete ein anderer Kollege, dass sich die Proteste ausschließlich innerhalb eines bestimmten Milieus bewegten, trugen die Leser eifrig Beispiele zusammen, die das Gegenteil beweisen sollten.
Es ist der Versuch der Journalisten herauszufinden, was Menschen bewegt, gemeinsam auf die Straße zu gehen oder aber zu Hause zu bleiben. Und der ist sehr davon beeinflusst, wo der Berichterstatter seinen Beobachtungsposten aufstellt. Es gibt da kein "richtig" oder "falsch". Leser und Hörer sollten nicht erwarten, dass wir wissen, was genau geschieht, wenn wir uns an Orten von Revolutionen aufhalten. Auch wir werden oft eines Besseren belehrt.
Hatten wir uns mit den Iranern nicht über ihre grüne Revolution gefreut? Und waren wir nicht etwas enttäuscht, dass es lediglich zu einem Politikerwechsel, nicht aber zu einem grundsätzlichen Politikwechsel kam? Waren wir nicht erstaunt, als die Ägypter ihren Präsidenten davonjagten? Und waren wir nicht irritiert, als wir begriffen, wen sie stattdessen wählten?
Waren wir uns bei Beginn der Proteste in Istanbul nicht sicher, dass die Regierungspartei AKP ihre besseren Tage bereits hinter sich hat? Und nun treffe ich bei meinen Reisen durch das Land und die Milieus Türken, die sich von den Demonstranten bestärkt darin fühlen, weiterhin zu ihrer Regierung zu stehen.
Gesellschaftliche Vulkanausbrüche, wie wir sie dieser Tage erleben, folgen einem anderen Schema als in Deutschland, wo Demonstrationsrouten vorher mit der Polizei abgesprochen und angemeldet werden.
Die demonstrierenden Menschen gehen in einem Anfall von Wut und Überdruss auf die Straße. Ihre Wut speist sich daraus, welcher Gesellschaftsschicht sie angehören. Wenn alle gleichzeitig Freiheit rufen, dann meinen sie unter Umständen jeder etwas anderes: Freiheit in der Ehe oder im Beruf oder in der Religion, Freiheit etwas zu tun, ohne permanent als Staatsfeind verdächtigt zu werden.
Insofern stimmt jeder Kommentar eines Lesers, der unter einem Artikel eine andere Perspektive einfordert. Es ist alles wahr, weil alles vorhanden ist. Die Türkei ist ein Land der Gleichzeitigkeiten.
Ganze Landstriche bekommen eine neue Infrastruktur: Straßen, ein funktionierendes Gesundheitswesen, besser ausgestattete Schulen. Und gleichzeitig verhüllen sich ganze Landstriche - wie Bingöl. Aus dieser Provinz mit einer armen, unterdrückten Bevölkerung wurde innerhalb eines Jahrzehnts eine AKP-Hochburg, wo Menschen auf der Straße beten und Frauen wie schwarze Eulen herumlaufen.
Vor 20 Jahren war es in den Großstädten der Türkei nicht möglich, als unverheiratete Frau in einer eigenen Wohnung zu leben. Nun ist es in Ankara, Izmir und Istanbul Normalität geworden. Will man jetzt sagen, die Türkei hat sich modernisiert? Da selbst auferlegte Sittlichkeitsregeln und dort Emanzipation?
Insofern können Korrespondenten nicht "richtig" berichten, sondern nur verantwortungsvoll viele unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Für meine deutschsprachigen Kollegen kann ich glücklicherweise sagen: Sie machen es richtig.
Mely Kiyak, Publizistin. Zuletzt erschienen: "Briefe an die Nation und andere Ungereimtheiten", "Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an" (beide S. Fischer Verlag, Frankfurt 2013). Im Herbst dieses Jahres wird sie im neu gegründeten Digitalverlag shelff einen kleinen Text über ihre Zeit in der Türkei veröffentlichen. Auf "Zeit Online" erscheint ihre wöchentliche Kolumne "Türkische Tage". Mely Kiyak ist derzeit Stipendiatin in der Kulturakademie Tarabya/Istanbul.
Unter den Artikeln entspinnen sich häufig hitzige Diskussionen in den Kommentarspalten. Schrieb ein Kollege, die Protestgemeinde sei überkonfessionell und überparteilich, wurden die Leser nicht müde, Beispiele von Demonstranten aufzuführen, die politisch oder religiös klar einzuordnen sind. Behauptete ein anderer Kollege, dass sich die Proteste ausschließlich innerhalb eines bestimmten Milieus bewegten, trugen die Leser eifrig Beispiele zusammen, die das Gegenteil beweisen sollten.
Es ist der Versuch der Journalisten herauszufinden, was Menschen bewegt, gemeinsam auf die Straße zu gehen oder aber zu Hause zu bleiben. Und der ist sehr davon beeinflusst, wo der Berichterstatter seinen Beobachtungsposten aufstellt. Es gibt da kein "richtig" oder "falsch". Leser und Hörer sollten nicht erwarten, dass wir wissen, was genau geschieht, wenn wir uns an Orten von Revolutionen aufhalten. Auch wir werden oft eines Besseren belehrt.
Hatten wir uns mit den Iranern nicht über ihre grüne Revolution gefreut? Und waren wir nicht etwas enttäuscht, dass es lediglich zu einem Politikerwechsel, nicht aber zu einem grundsätzlichen Politikwechsel kam? Waren wir nicht erstaunt, als die Ägypter ihren Präsidenten davonjagten? Und waren wir nicht irritiert, als wir begriffen, wen sie stattdessen wählten?
Waren wir uns bei Beginn der Proteste in Istanbul nicht sicher, dass die Regierungspartei AKP ihre besseren Tage bereits hinter sich hat? Und nun treffe ich bei meinen Reisen durch das Land und die Milieus Türken, die sich von den Demonstranten bestärkt darin fühlen, weiterhin zu ihrer Regierung zu stehen.
Gesellschaftliche Vulkanausbrüche, wie wir sie dieser Tage erleben, folgen einem anderen Schema als in Deutschland, wo Demonstrationsrouten vorher mit der Polizei abgesprochen und angemeldet werden.
Die demonstrierenden Menschen gehen in einem Anfall von Wut und Überdruss auf die Straße. Ihre Wut speist sich daraus, welcher Gesellschaftsschicht sie angehören. Wenn alle gleichzeitig Freiheit rufen, dann meinen sie unter Umständen jeder etwas anderes: Freiheit in der Ehe oder im Beruf oder in der Religion, Freiheit etwas zu tun, ohne permanent als Staatsfeind verdächtigt zu werden.
Insofern stimmt jeder Kommentar eines Lesers, der unter einem Artikel eine andere Perspektive einfordert. Es ist alles wahr, weil alles vorhanden ist. Die Türkei ist ein Land der Gleichzeitigkeiten.
Ganze Landstriche bekommen eine neue Infrastruktur: Straßen, ein funktionierendes Gesundheitswesen, besser ausgestattete Schulen. Und gleichzeitig verhüllen sich ganze Landstriche - wie Bingöl. Aus dieser Provinz mit einer armen, unterdrückten Bevölkerung wurde innerhalb eines Jahrzehnts eine AKP-Hochburg, wo Menschen auf der Straße beten und Frauen wie schwarze Eulen herumlaufen.
Vor 20 Jahren war es in den Großstädten der Türkei nicht möglich, als unverheiratete Frau in einer eigenen Wohnung zu leben. Nun ist es in Ankara, Izmir und Istanbul Normalität geworden. Will man jetzt sagen, die Türkei hat sich modernisiert? Da selbst auferlegte Sittlichkeitsregeln und dort Emanzipation?
Insofern können Korrespondenten nicht "richtig" berichten, sondern nur verantwortungsvoll viele unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Für meine deutschsprachigen Kollegen kann ich glücklicherweise sagen: Sie machen es richtig.
Mely Kiyak, Publizistin. Zuletzt erschienen: "Briefe an die Nation und andere Ungereimtheiten", "Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an" (beide S. Fischer Verlag, Frankfurt 2013). Im Herbst dieses Jahres wird sie im neu gegründeten Digitalverlag shelff einen kleinen Text über ihre Zeit in der Türkei veröffentlichen. Auf "Zeit Online" erscheint ihre wöchentliche Kolumne "Türkische Tage". Mely Kiyak ist derzeit Stipendiatin in der Kulturakademie Tarabya/Istanbul.