"Residenzpflicht ist etwas, was es sonst nirgendwo in der EU gibt"
Staatliche Restriktionen gegenüber Asylbewerbern, die angeblich das "Gastrecht" missbrauchten, hätten in der Bundesrepublik eine lange Tradition, meint der Historiker Jochen Oltmer. Er plädiert dafür, Residenzpflicht und Arbeitsverbot abzuschaffen.
Matthias Hanselmann: Anfang September hatte eine Gruppe Asylbewerber aus Bayern genug von ihrer Lage und zog in Richtung Berlin. Dorthin, wo ihrer Meinung nach eine falsche Asylpolitik betrieben wird. Sie protestieren mit einem fast 600 Kilometer langen Marsch unter anderem gegen das Arbeitsverbot und die Residenzpflicht für Asylbewerber. Diese zwingt sie, da zu bleiben, wo man sie hingesetzt hat, in ihrer Unterkunft und im nahen Umkreis, je nachdem, wie es die zuständige Ausländerbehörde erlaubt. Die rund 20 Protestierenden haben sich längst strafbar gemacht, denn sie haben inzwischen die Grenze von Bayern zu Thüringen überschritten und immer wieder gesellen sich Menschen zu ihnen, die sich mit ihnen solidarisieren. Warum aber gibt es bei uns ein derart strenges Asylrecht, wozu dient diese Residenzpflicht, hat sie eine Berechtigung?
Dies und mehr fragen wir jetzt Jochen Oltmer. Er ist Autor des Buches "Globale Migration. Geschichte und Gegenwart", erschienen bei C. H. Beck, und er leitet das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität von Osnabrückund ist für uns jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Oltmer!
Jochen Oltmer: Guten Morgen, hallo!
Hanselmann: Zunächst: Haben Sie Verständnis für diesen Refugee Protest March, wie die Asylbewerber ihre Demonstration nennen?
Oltmer: Ja, Verständnis habe ich dafür auf jeden Fall. Wenn man sich die Bedingungen anschaut, die sich in den letzten Jahren ergeben haben für viele Asylbewerber, dann, denke ich, kann man davon sprechen, dass solche Proteste auch tatsächlich Berechtigung haben.
Hanselmann: Ein zentraler Punkt des Protestes, ich habe es eben schon angesprochen, ist der, die sogenannte Residenzpflicht. Was genau bedeutet sie für Asylbewerber?
Oltmer: Ja, nach dieser Residenzpflicht müssen eben Asylbewerber tatsächlich mindestens in dem Bundesland bleiben, in dem sie sich aufhalten, zum Teil haben die Bundesländer aber auch Regelungen gefasst, nach denen sie innerhalb bestimmter Landkreise bleiben müssen. Zum Teil können auch sogar die Landkreise die Regelungen noch weiter verstärken und ganz konkret auf bestimmte Orte festlegen, an dem sich Asylbewerber aufhalten müssen. Und sobald sie eben diese Kreise überschreiten, machen sie sich strafbar.
Hanselmann: Von wem ist denn die jeweilige Lockerung dieser Residenzpflicht abhängig? Von der Willkür der jeweiligen lokalen Ausländerbehörden?
Oltmer: Auch. Es ist grundsätzlich erst mal eine Regelung der verschiedenen Bundesländer. Die verschiedenen Bundesländer gehen aber mit diesem Sachverhalt sehr unterschiedlich um, das heißt, es gibt hier sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, wie sich Asylbewerber in dieser Hinsicht verhalten dürfen oder nicht. Und wichtig ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch: Diese Regelung, diese Residenzpflicht ist etwas, was es sonst nirgendwo in der EU gibt. Also, die Bundesrepublik ist hier schon ein Einzelfall.
Hanselmann: Seit wann gibt es sie und warum wurde sie eingeführt?
Oltmer: Also, wenn man über Asyl spricht, dann spricht man über inzwischen 60 Jahre Asyl. Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik ganz viele Auseinandersetzungen über das Asyl gegeben, ganz viele Regelungen sind geschaffen worden, aber auch wieder dann zurückgenommen worden. Diese Form gibt es seit Anfang der 1980er-Jahre. Sie ist mehrfach verschärft worden, es hat aber auch immer wieder dann Maßnahmen gegeben, um die Schärfe aus diesen Regelungen herauszunehmen. Es hat vorher auch schon solche Regelungen gegeben, 1975 beispielsweise ist dann aber mal ein Erlass herausgekommen, wonach alle Asylbewerber arbeiten sollten, um die Sozialhilfekosten zu verringern. Also, es gibt da ein Hin und Her.
Hanselmann: Günter Burkhardt, der Geschäftsführer von Pro Asyl, hat gestern hier bei uns im "Radiofeuilleton" gesagt, das Verbot der Arbeit zerstöre Menschen, mache sie psychisch kaputt, und auch die Residenzpflicht sei reine Schikane: Warum solle ein Asylbewerber nicht in ein anderes Bundesland ziehen, wenn er dort eine angemessene Arbeit bekommen könnte… Herr Oltmer, warum werden diese beiden Dinge nicht einfach gekippt?
Oltmer: Ich kann da noch mal wieder auf die Geschichte des Asylrechts verweisen: Also, wenn man sich die Situation in den letzten Jahrzehnten anschaut, dann, sieht man ja, ist, wenn es um Asyl ging, sehr häufig über einerseits Belastungen durch Asylbewerber, wirtschaftliche, soziale Belastungen durch Asylbewerber gesprochen worden, und zum anderen über Sicherheit, über Gefahren, auch politische Gefahren durch Asylbewerber. Es gibt eine sehr klare politische Richtung, die davon ausgeht, dass eben hinsichtlich von Asylbewerbern von staatlicher Seite Misstrauen angebracht ist, nicht zuletzt deshalb, weil immer wieder die Rede davon war in den letzten Jahrzehnten, dass es ein erhebliches Ausmaß des Missbrauchs des "Gastrechts", wie es dann so schön heißt, gegeben hat.
Und wenn es dann ganz konkret um Misstrauen geht, um die Vorstellung von Belastung und Gefahr, dann, glaube ich, macht es Sinn, auch solche sehr restriktiven Regelungen auf den Weg zu bringen. Inwieweit sie tatsächlich dann diese Situation in den Landkreisen beeinflussen und was das für die Asylbewerber heißt, ist eine ganz andere Frage. Also das, was gerade ganz konkret gesagt wurde, psychische Belastung, das kann ich nur unterstreichen. Wenn Sie jahrelang – und so etwas hat es ja immer wieder gegeben – nicht arbeiten dürfen und auf Unterkünfte beschränkt sind, dann, glaube ich, kann man zu einem Teil schon von Traumatisierung sprechen.
Hanselmann: Ist denn dieser Missbrauch des Gastrechts, den Sie eben angesprochen haben, wirklich so eklatant?
Oltmer: Also, die Diskussion in der Bundesrepublik ist in dem Zusammenhang ganz unterschiedlich gelaufen. Das hängt von ganz vielen Faktoren ab. Also, wir haben Situationen gehabt wie beispielsweise Anfang der 1980er- oder der 1990er-Jahre, wo die Zahl der Asylbewerber sehr hoch war und gleichzeitig eine Situation beispielsweise von hoher Erwerbslosigkeit zu sehen war. Und in diesen Konstellationen ist – ich vereinfache – sehr häufig eben von Missbrauch gesprochen worden. Wir haben aber auch Situationen gehabt wie beispielsweise in den 1960er- oder den 1970er-Jahren, wo Sie keine Erwerbslosigkeit haben und wo insbesondere Menschen aus dem sogenannten Ostblock in die Bundesrepublik gekommen sind, wo im Verständnis der Bundesrepublik jede Abwanderung aus dem Ostblock als Abstimmung mit den Füßen, die positiv zu sehen war, verstanden wurde. Und da gibt es also tatsächlich dann wie etwa 1956 nach dem Volksaufstand in Ungarn Solidaritätsbekundungen von Deutschen allenthalben, die sagen, ja, wir müssen viele ungarische Flüchtlinge aufnehmen, oder 1968 Tschechoslowakei beispielsweise. Also, so etwas gibt es auch.
Hanselmann: Also, man kann daran sehen, wie unterschiedlich das im Lauf der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gehandhabt wurde. Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Jochen Oltmer, er ist Leiter des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität von Osnabrück und Experte für Asylrecht. Herr Oltmer, nun haben wir ja auf der einen Seite die Genfer Flüchtlingskonvention und auf der anderen Seite unser nationales Asylrecht, das ja sogar schärfer ist. Warum ist das eigentlich so?
Oltmer: Auch das hat historische Gründe. 1948, 49 ist ja in der Bundesrepublik beziehungsweise in der entstehenden Bundesrepublik über einen Asylartikel 16a im Grundgesetz gesprochen worden. Es ist damals gesagt worden – so steht es ja auch im Grundgesetz –, dass politisch Verfolgte Asyl bekommen sollen. Punkt, mehr steht da nicht. Was aber ein politisch Verfolgter ist, ist unklar. Und es ist mit dem Asylgrundrecht und dann den Regelungen, die danach erfolgt sind, tatsächlich nicht geklärt worden, wer ganz konkret eigentlich dieses Asylrecht in Anspruch nehmen kann. Also, die Bestimmungen sind sehr offen. Und die Möglichkeiten der Administration der Behörden, hier Regelungen vorzugeben, die immer umstritten waren, sind weit. Die Genfer Flüchtlingskonvention von '53 hat eine klarere Definition dessen, was Flüchtlinge sind. Und so gibt es seit Anfang der 1950er-Jahre in gewisser Weise einen Widerstreit zwischen der Asylregelung der Bundesrepublik, im Grundgesetz festgelegt, und der Genfer Flüchtlingskonvention. Und das geht bis heute so.
Hanselmann: Letztere geht aber vor?
Oltmer: Beides gilt. Also, inzwischen ist es so, dass tatsächlich beides, man kann sagen, fast nebeneinander steht. Sie können, wenn Sie heute in die Bundesrepublik kommen und Asyl beantragen, eben sowohl dann nach dem Grundgesetz eine Aufenthaltsberechtigung bekommen als eben auch nach der Genfer Flüchtlingskonvention. In dem einen Fall sind Sie asylberechtigt, wenn es um den Asylartikel geht, in dem anderen Fall wird Ihnen eine Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Das sind unterschiedliche Begriffe, der Rechtsstatus ist mehr oder minder identisch.
Hanselmann: Herr Oltmer, mal ganz grundsätzlich: Warum tut sich Deutschland eigentlich so schwer damit, ein Einwanderungsland zu sein, so wie es die USA schon allein traditionell sind?
Oltmer: Ja, auch das, darf ich als Historiker sagen, hat sehr stark mit der Entwicklung der letzten Jahrzehnte zu tun. Wir dürfen nicht verkennen, wir haben seit 100, 150 Jahren mit einer sehr engen Vorstellung davon zu tun, was Deutsche sind und was Deutsche sein sollten und wer in Deutschland lebt. Und diese Vorstellungen über einen relativ homogenen Nationalstaat haben sich letztlich nach der Gründung der Bundesrepublik noch mal verstärkt. 1949, mit der Gründung der Bundesrepublik, gab es so gut wie überhaupt keine Minderheiten mehr im Land, es gab auch so gut wie überhaupt keine Einwanderung im Land.
Und diese Vorstellung von einem homogenen Nationalstaat, der hier als Idealzustand verstanden wurde, hat sich eigentlich fortgesetzt, und alles das, was seither sich entwickelt hat, wird von vielen – keineswegs jetzt von allen – immer noch verstanden als ein Idealzustand, als ein Normalzustand, der im Zweifelsfall auch wieder herzustellen ist. Deshalb ja auch immer wieder diese Diskussionen und zum Teil auch sehr scharfen Diskussionen beispielsweise darum, ob man nicht ein Asylgrundrecht ganz abschaffen sollte.
Hanselmann: Vor den Hintergründen, die Sie uns geschildert haben, zum Schluss die Frage mit Bitte um kurze Antwort: Sollte nicht Residenzpflicht und Verbot der Arbeit abgeschafft werden?
Oltmer: Es gibt bessere Maßnahmen, um ganz konkret das Asylrecht auszugestalten, denke ich, ja.
Hanselmann: Vielen Dank! Jochen Oltmer, der Leiter des Institutes für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Uni von Osnabrück zum deutschen Asylrecht und seine Geschichte. Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Dies und mehr fragen wir jetzt Jochen Oltmer. Er ist Autor des Buches "Globale Migration. Geschichte und Gegenwart", erschienen bei C. H. Beck, und er leitet das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität von Osnabrückund ist für uns jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Oltmer!
Jochen Oltmer: Guten Morgen, hallo!
Hanselmann: Zunächst: Haben Sie Verständnis für diesen Refugee Protest March, wie die Asylbewerber ihre Demonstration nennen?
Oltmer: Ja, Verständnis habe ich dafür auf jeden Fall. Wenn man sich die Bedingungen anschaut, die sich in den letzten Jahren ergeben haben für viele Asylbewerber, dann, denke ich, kann man davon sprechen, dass solche Proteste auch tatsächlich Berechtigung haben.
Hanselmann: Ein zentraler Punkt des Protestes, ich habe es eben schon angesprochen, ist der, die sogenannte Residenzpflicht. Was genau bedeutet sie für Asylbewerber?
Oltmer: Ja, nach dieser Residenzpflicht müssen eben Asylbewerber tatsächlich mindestens in dem Bundesland bleiben, in dem sie sich aufhalten, zum Teil haben die Bundesländer aber auch Regelungen gefasst, nach denen sie innerhalb bestimmter Landkreise bleiben müssen. Zum Teil können auch sogar die Landkreise die Regelungen noch weiter verstärken und ganz konkret auf bestimmte Orte festlegen, an dem sich Asylbewerber aufhalten müssen. Und sobald sie eben diese Kreise überschreiten, machen sie sich strafbar.
Hanselmann: Von wem ist denn die jeweilige Lockerung dieser Residenzpflicht abhängig? Von der Willkür der jeweiligen lokalen Ausländerbehörden?
Oltmer: Auch. Es ist grundsätzlich erst mal eine Regelung der verschiedenen Bundesländer. Die verschiedenen Bundesländer gehen aber mit diesem Sachverhalt sehr unterschiedlich um, das heißt, es gibt hier sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, wie sich Asylbewerber in dieser Hinsicht verhalten dürfen oder nicht. Und wichtig ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch: Diese Regelung, diese Residenzpflicht ist etwas, was es sonst nirgendwo in der EU gibt. Also, die Bundesrepublik ist hier schon ein Einzelfall.
Hanselmann: Seit wann gibt es sie und warum wurde sie eingeführt?
Oltmer: Also, wenn man über Asyl spricht, dann spricht man über inzwischen 60 Jahre Asyl. Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik ganz viele Auseinandersetzungen über das Asyl gegeben, ganz viele Regelungen sind geschaffen worden, aber auch wieder dann zurückgenommen worden. Diese Form gibt es seit Anfang der 1980er-Jahre. Sie ist mehrfach verschärft worden, es hat aber auch immer wieder dann Maßnahmen gegeben, um die Schärfe aus diesen Regelungen herauszunehmen. Es hat vorher auch schon solche Regelungen gegeben, 1975 beispielsweise ist dann aber mal ein Erlass herausgekommen, wonach alle Asylbewerber arbeiten sollten, um die Sozialhilfekosten zu verringern. Also, es gibt da ein Hin und Her.
Hanselmann: Günter Burkhardt, der Geschäftsführer von Pro Asyl, hat gestern hier bei uns im "Radiofeuilleton" gesagt, das Verbot der Arbeit zerstöre Menschen, mache sie psychisch kaputt, und auch die Residenzpflicht sei reine Schikane: Warum solle ein Asylbewerber nicht in ein anderes Bundesland ziehen, wenn er dort eine angemessene Arbeit bekommen könnte… Herr Oltmer, warum werden diese beiden Dinge nicht einfach gekippt?
Oltmer: Ich kann da noch mal wieder auf die Geschichte des Asylrechts verweisen: Also, wenn man sich die Situation in den letzten Jahrzehnten anschaut, dann, sieht man ja, ist, wenn es um Asyl ging, sehr häufig über einerseits Belastungen durch Asylbewerber, wirtschaftliche, soziale Belastungen durch Asylbewerber gesprochen worden, und zum anderen über Sicherheit, über Gefahren, auch politische Gefahren durch Asylbewerber. Es gibt eine sehr klare politische Richtung, die davon ausgeht, dass eben hinsichtlich von Asylbewerbern von staatlicher Seite Misstrauen angebracht ist, nicht zuletzt deshalb, weil immer wieder die Rede davon war in den letzten Jahrzehnten, dass es ein erhebliches Ausmaß des Missbrauchs des "Gastrechts", wie es dann so schön heißt, gegeben hat.
Und wenn es dann ganz konkret um Misstrauen geht, um die Vorstellung von Belastung und Gefahr, dann, glaube ich, macht es Sinn, auch solche sehr restriktiven Regelungen auf den Weg zu bringen. Inwieweit sie tatsächlich dann diese Situation in den Landkreisen beeinflussen und was das für die Asylbewerber heißt, ist eine ganz andere Frage. Also das, was gerade ganz konkret gesagt wurde, psychische Belastung, das kann ich nur unterstreichen. Wenn Sie jahrelang – und so etwas hat es ja immer wieder gegeben – nicht arbeiten dürfen und auf Unterkünfte beschränkt sind, dann, glaube ich, kann man zu einem Teil schon von Traumatisierung sprechen.
Hanselmann: Ist denn dieser Missbrauch des Gastrechts, den Sie eben angesprochen haben, wirklich so eklatant?
Oltmer: Also, die Diskussion in der Bundesrepublik ist in dem Zusammenhang ganz unterschiedlich gelaufen. Das hängt von ganz vielen Faktoren ab. Also, wir haben Situationen gehabt wie beispielsweise Anfang der 1980er- oder der 1990er-Jahre, wo die Zahl der Asylbewerber sehr hoch war und gleichzeitig eine Situation beispielsweise von hoher Erwerbslosigkeit zu sehen war. Und in diesen Konstellationen ist – ich vereinfache – sehr häufig eben von Missbrauch gesprochen worden. Wir haben aber auch Situationen gehabt wie beispielsweise in den 1960er- oder den 1970er-Jahren, wo Sie keine Erwerbslosigkeit haben und wo insbesondere Menschen aus dem sogenannten Ostblock in die Bundesrepublik gekommen sind, wo im Verständnis der Bundesrepublik jede Abwanderung aus dem Ostblock als Abstimmung mit den Füßen, die positiv zu sehen war, verstanden wurde. Und da gibt es also tatsächlich dann wie etwa 1956 nach dem Volksaufstand in Ungarn Solidaritätsbekundungen von Deutschen allenthalben, die sagen, ja, wir müssen viele ungarische Flüchtlinge aufnehmen, oder 1968 Tschechoslowakei beispielsweise. Also, so etwas gibt es auch.
Hanselmann: Also, man kann daran sehen, wie unterschiedlich das im Lauf der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gehandhabt wurde. Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Jochen Oltmer, er ist Leiter des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität von Osnabrück und Experte für Asylrecht. Herr Oltmer, nun haben wir ja auf der einen Seite die Genfer Flüchtlingskonvention und auf der anderen Seite unser nationales Asylrecht, das ja sogar schärfer ist. Warum ist das eigentlich so?
Oltmer: Auch das hat historische Gründe. 1948, 49 ist ja in der Bundesrepublik beziehungsweise in der entstehenden Bundesrepublik über einen Asylartikel 16a im Grundgesetz gesprochen worden. Es ist damals gesagt worden – so steht es ja auch im Grundgesetz –, dass politisch Verfolgte Asyl bekommen sollen. Punkt, mehr steht da nicht. Was aber ein politisch Verfolgter ist, ist unklar. Und es ist mit dem Asylgrundrecht und dann den Regelungen, die danach erfolgt sind, tatsächlich nicht geklärt worden, wer ganz konkret eigentlich dieses Asylrecht in Anspruch nehmen kann. Also, die Bestimmungen sind sehr offen. Und die Möglichkeiten der Administration der Behörden, hier Regelungen vorzugeben, die immer umstritten waren, sind weit. Die Genfer Flüchtlingskonvention von '53 hat eine klarere Definition dessen, was Flüchtlinge sind. Und so gibt es seit Anfang der 1950er-Jahre in gewisser Weise einen Widerstreit zwischen der Asylregelung der Bundesrepublik, im Grundgesetz festgelegt, und der Genfer Flüchtlingskonvention. Und das geht bis heute so.
Hanselmann: Letztere geht aber vor?
Oltmer: Beides gilt. Also, inzwischen ist es so, dass tatsächlich beides, man kann sagen, fast nebeneinander steht. Sie können, wenn Sie heute in die Bundesrepublik kommen und Asyl beantragen, eben sowohl dann nach dem Grundgesetz eine Aufenthaltsberechtigung bekommen als eben auch nach der Genfer Flüchtlingskonvention. In dem einen Fall sind Sie asylberechtigt, wenn es um den Asylartikel geht, in dem anderen Fall wird Ihnen eine Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Das sind unterschiedliche Begriffe, der Rechtsstatus ist mehr oder minder identisch.
Hanselmann: Herr Oltmer, mal ganz grundsätzlich: Warum tut sich Deutschland eigentlich so schwer damit, ein Einwanderungsland zu sein, so wie es die USA schon allein traditionell sind?
Oltmer: Ja, auch das, darf ich als Historiker sagen, hat sehr stark mit der Entwicklung der letzten Jahrzehnte zu tun. Wir dürfen nicht verkennen, wir haben seit 100, 150 Jahren mit einer sehr engen Vorstellung davon zu tun, was Deutsche sind und was Deutsche sein sollten und wer in Deutschland lebt. Und diese Vorstellungen über einen relativ homogenen Nationalstaat haben sich letztlich nach der Gründung der Bundesrepublik noch mal verstärkt. 1949, mit der Gründung der Bundesrepublik, gab es so gut wie überhaupt keine Minderheiten mehr im Land, es gab auch so gut wie überhaupt keine Einwanderung im Land.
Und diese Vorstellung von einem homogenen Nationalstaat, der hier als Idealzustand verstanden wurde, hat sich eigentlich fortgesetzt, und alles das, was seither sich entwickelt hat, wird von vielen – keineswegs jetzt von allen – immer noch verstanden als ein Idealzustand, als ein Normalzustand, der im Zweifelsfall auch wieder herzustellen ist. Deshalb ja auch immer wieder diese Diskussionen und zum Teil auch sehr scharfen Diskussionen beispielsweise darum, ob man nicht ein Asylgrundrecht ganz abschaffen sollte.
Hanselmann: Vor den Hintergründen, die Sie uns geschildert haben, zum Schluss die Frage mit Bitte um kurze Antwort: Sollte nicht Residenzpflicht und Verbot der Arbeit abgeschafft werden?
Oltmer: Es gibt bessere Maßnahmen, um ganz konkret das Asylrecht auszugestalten, denke ich, ja.
Hanselmann: Vielen Dank! Jochen Oltmer, der Leiter des Institutes für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Uni von Osnabrück zum deutschen Asylrecht und seine Geschichte. Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.