Jens-Uwe Martens: "Das Geheimnis seelischer Kraft. Wie Sie durch Resilienz Schicksalsschläge und Krisen überwinden"
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2018
207 Seiten, 19 Euro
Widerstandsfähigkeit in Krisenzeiten
Überwintern in der Krise: Der Psychologe und Coach Jens-Uwe Martens geht seit Langem der Frage nach, woraus wir in schweren Zeiten Kraft schöpfen. © Unsplash / Dominik Scythe
Was die Seele stark macht
12:09 Minuten
Klimawandel, Pandemie, Ukraine-Krieg: Eine Krise jagt die nächste. Viele Menschen belastet das, aber manche scheinen damit besser umgehen zu können als andere. Der Psychologe Jens-Uwe Martens erklärt, was uns resilient macht.
Er hat in seinem Leben selbst mehrere schwere Schicksalsschläge überlebt, heute hilft Jens Uwe Martens als Psychologe, Coach und Berater anderen Menschen, die Hoffnung nicht zu verlieren. Ein Gespräch über Widerstandsfähigkeit, den Sinn im Schrecklichen und was konkret hilft, wenn man sich ohnmächtig fühlt.
Julia Ley: Herr Martens, ich würde gerne bei Ihrer persönlichen Geschichte beginnen. Als sie 30 Jahre alt waren, sind bei einem Flugzeugabsturz Ihre Frau und Ihre ersten beiden Kinder ums Leben gekommen. Das liegt jetzt über 50 Jahre zurück, und als Außenstehende kann man sich eigentlich kaum vorstellen, wie man nach so einer Katastrophe überhaupt weitermacht. Wie haben Sie damals die ersten Tage und Wochen überstanden?
Jens-Uwe Martens: Ich kann mir das heute auch gar nicht mehr vorstellen. Aber ich kann mich erinnern, dass ich damals völlig gefühllos war. Es war, als ob man mein Gefühl ausgeschaltet hat und ich nur noch Ratio war. Nachdem ich am Telefon erfahren habe, dass das Flugzeug abgestürzt ist, mit dem ich meine Familie erwartete, und dass alle Insassen tot sind, habe ich mich ins Auto gesetzt und bin zum Flughafen gefahren, um Näheres zu erfahren. Und ich wunderte mich, dass ich so vernünftig reagieren kann.
Ich habe einfach ganz normal reagiert und ich dachte eigentlich: Ich finde es total verrückt, dass man nicht fahren darf, wenn man betrunken ist – aber wenn einem so etwas passiert ist, darf man Auto fahren. Ich hatte das Gefühl, das ist doch jetzt eine Kleinigkeit, einfach in das andere Auto rein zu lenken. Und dann wäre alles vorbei. Ich fühlte keine Trauer. Ich fühlte keine Verzweiflung. Ich reagierte wie ein Roboter, wie ein Zombie. Und das ist auch Tage so geblieben. Nein, nicht nur Tage, eigentlich Wochen.
Als ob die Farbe ins Leben zurückkehrt
Ley: Wie lange hat es gedauert, bis sie aus diesem Zustand wieder aufgewacht sind?
Martens: Das waren ungefähr zwei Monate. Ich habe in dieser Zeit wirklich das Gefühl gesucht. Ich bin zum Grab meiner Familie gegangen, um wenigstens Trauer fühlen zu können, denn dort konnte ich das.
Ja, und dann, das klingt sehr romantisch, war ich auf einer Geburtstagsparty meines Bruders und tanzte dort mit einer Frau. Und die hat den Schalter gefunden. Auf einmal konnte ich wieder fühlen. Das war wirklich von jetzt auf gleich. Und das ist ein Eindruck, ein Erlebnis – das kann man sich nicht vorstellen, wenn man das nicht erlebt hat. Das ist wirklich so, wie man es manchmal im Kino sieht, so als ob auf einmal die Farbe zurückkehrt in die Person.
Ley: Das heißt, da kehrt dann nicht die Farbe in diesem Moment zurück, sondern auch ins ganze restliche Leben und Fühlen?
Martens: Ja, ich konnte auf einmal wieder fühlen. Und ich war so happy. Diese Gefühllosigkeit wird beschrieben, das war nicht bei mir einzigartig. Das kommt immer dann vor, wenn der Mensch die Eindrücke nicht mehr verarbeiten kann. Das ist so ein Automatismus, da wird ein Teil des Gehirns abgeschaltet. Ja, und dann kam es wieder. Leider war die Frau verheiratet, aber das ist jetzt nicht unser Thema.
Zwei Aspekte der Hoffnung
Ley: Es geht in unserer Sendung heute um das Thema Hoffnung. Und Sie haben mir im Vorgespräch erzählt, dass Sie in den Jahren danach eine ganz konkrete Hoffnung am Leben erhalten hat. Welche Hoffnung war denn das? Und warum war gerade die so ausschlaggebend?
Martens: Ich war 30 bei dem Unfall meiner ersten Familie. Und ich dachte, ich bin ja jetzt jung genug, du suchst dir eine neue Frau, und mit der wirst du wieder Kinder haben. Denn für mich war Familie das Allerwichtigste in meinem Leben. Das war das Lebensziel überhaupt. Und das war meine Hoffnung.
Aber Hoffnung, das hab ich gelernt, hat zwei Aspekte: einen kognitiven Aspekt, das ist sozusagen die statistische Erwartung, dass das Gewünschte eintritt, aber auch noch einen affektiven Aspekt. Und dieser affektive Aspekt, der fehlte ganz offensichtlich, weil ich nicht fühlen konnte.
Ich habe mir ausgerechnet, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ich eine passende Frau in München finden werde. Und das hängt natürlich davon ab: Wie viele passende Frauen laufen hier eigentlich rum?
Ich wusste, die durfte nicht rauchen. Ich wusste, sie müsste eigentlich dunkelhaarig sein. Sie müsste ein bestimmtes Alter haben und so weiter und so fort. Und dann ist immer eine Gruppe weggefallen und so kam ich auf, glaube ich, 3000 Frauen in München. Da dachte ich, na, ich werde doch eine von denen finden. So kann man nicht darangehen. Hoffen heißt, wieder Gefühlsmensch werden.
Ley: Sie haben dann an ihrem 40. Geburtstag, also genau zehn Jahre nach dem Tod ihrer ersten Frau, aktiv beschlossen, Junggeselle zu bleiben, weil sie glaubten, zu alt zu sein, um noch einmal Vater zu werden. Und zack, genau zwei Monate später lernten Sie Ihre nächste Frau kennen. Man könnte also sagen, solang Sie Hoffnung hatten, gelang das nicht. Aber als Sie die Hoffnung dann aufgegeben haben, fanden Sie plötzlich die Frau, die Sie gesucht hatten?
Martens: Nein, das würde ich anders formulieren. Meine Ratio wurde ausgeschaltet, das heißt, der rationale Teil der Hoffnung wurde ausgeschaltet. Und das war die Voraussetzung dafür, dass sozusagen die Hoffnung in mich hineinkriechen konnte, dass ich sie fühlen konnte.
Und in dem Moment spielten diese rational mir überlegten Eigenschaften der Frau keine Rolle mehr. Ich war jetzt wieder Gefühlsmensch. Also, ich habe auf einmal nicht mehr mit der Ratio meine Frau gesucht, sondern mit der Intuition.
Manche Menschen stecken mehr weg
Ley: Damit die Hoffnung wohin führt, müssen also eigentlich beide Aspekte zusammenkommen. Sie haben sich ja mit der Frage, wie man nach Schicksalsschlägen weitermacht, nicht nur in Ihrer persönlichen Geschichte, sondern auch sehr wissenschaftlich auseinandergesetzt. Sie haben ein Buch über Resilienz geschrieben, und das ist ja ein Wort, das in den letzten Jahren sehr beliebt geworden ist. Aber was genau bedeutet Resilienz eigentlich?
Martens: Widerstandskraft. Bezogen auf die Psychologie ist es psychologische Widerstandskraft. Das heißt, man hat entdeckt, dass es Menschen gibt, die auch schwere Schicksalsschläge überstehen und trotzdem erfüllte Leben führen. Das hat mich natürlich fasziniert, aufgrund meines eigenen Schicksals. Und ich habe nach Personen gesucht, die ähnliche Resilienzerfahrungen gemacht haben.
Beispiel Stephen Hawking: Sie alle kennen wahrscheinlich Stephen Hawking. Das ist der Physiker, der im Rollstuhl sitzt und keinen einzigen Muskel bewegen kann. Und der ist mal gefragt worden, wann er denn glücklicher war: als er noch gesund war oder jetzt? Worauf er ganz spontan sagte, jetzt natürlich. Wie kann man sich als glücklich bezeichnen, wenn man keinen einzigen Muskel bewegen kann, wenn man 24 Stunden am Tag auf Hilfe angewiesen ist?
In unseren Erfahrungen einen Sinn entdecken
Ley: In Ihrem Buch identifizieren Sie zwölf Faktoren als entscheidend dafür, wie gut jemand mit Krisen umgehen kann. Können Sie uns da ein Beispiel geben? Was entscheidet denn darüber, wie resilient jemand ist?
Martens: Es spielt eine große Rolle, was wir erlebt haben als Kind. Hatten wir Eltern, die uns geliebt haben, die uns gezeigt haben, dass wir so, wie wir sind, gut sind? Das spielt eine sehr große Rolle, das spielte auch beim Stephen Hawking eine Rolle. Aber es gibt viele andere Faktoren.
Es gibt zum Beispiel dieses, was wir Menschen haben: Wir können in unserem Leben oder in dem, was uns umgibt, Sinn sehen. Offensichtlich ist das etwas, was uns ganz widerstandsfähig macht. Wenn wir sinnvolle Erfahrungen machen, also Erfahrungen machen, die wir sinnvoll interpretieren können, dann haben wir mehr Widerstandskraft.
Viktor Frankl hat das untersucht, hat darauf eine ganze Lehre aufgebaut. Er war ja lange Zeit im Konzentrationslager, und er sagte, wenn da eine neue – Entschuldigung, er nannte es so – Ladung kommt, "Ladung" von Menschen, dass er von vornherein sehen konnte: Wer hat eine Chance, hier im Konzentrationslager zu überleben und wer nicht? Und er sagt, das hing allein davon ab, ob derjenige, der da ins Konzentrationslager kam, auch in dieser Situation noch einen Sinn sehen konnte. Und die, die das konnten, die hatten eine gute Chance. Die das nicht konnten, waren verloren.
Glaube an einen gütigen Gott macht resilienter
Ley: Man könnte sagen, es ist auch eine der Aufgaben der großen Weltreligionen, solche Sinnzusammenhänge herzustellen. Würden Sie sagen, Vertrauen oder Hoffnung hat also auch immer etwas mit Glauben zu tun?
Martens: Ja. Das ist auch das Wissen um ein höheres Wesen. Die Hoffnung, dass es das gibt, ist ein wesentlicher Resilienzfaktor. Und natürlich, Sie haben völlig recht: Eigentlich geht es in allen Religionen um diese Sinnfrage. Und das ist sogar empirisch nachgewiesen: Menschen, die an einen gütigen, verzeihenden Gott glauben, werden schneller wieder gesund nach schweren Operationen, überstehen Schwierigkeiten besser.
Die Frage „Warum ich?“ führt ins Nichts
Ley: Gleichzeitig hat man manchmal das Gefühl, wenn man auf die aktuelle Situation blickt, zum Beispiel den brutalen und völlig sinnlos scheinenden Angriffskrieg, dass es sehr schwer ist, darin einen Sinnzusammenhang zu erkennen. Ist das überhaupt in jeder Situation möglich?
Martens: Viktor Frankl würde sagen: Ja. Ich weiß nicht, ob man dieses uneingeschränkte „Ja“ sagen kann. Das wage ich nicht zu sagen. Mir ist es tatsächlich gelungen, und ich habe mich darauf spezialisiert. Und ich frage mich jedes Mal, wenn etwas schiefgeht: Wo ist der Sinn?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Frage, die sich einem aufdrängt nach so einem schlimmen Erlebnis, nämlich die Frage „warum musste mir das passieren?“, dass die sinnlos ist, dass die ins Nichts führt. Man kann die Frage umdrehen: Wozu musste mir das passieren? Was ist der Zweck? Zweck klingt ein bisschen zu rational, aber: Was ist wirklich der Sinn?
Konkretes tun, Gedanken aufschreiben
Ley: All die Krisen, die wir jetzt gleichzeitig sehen – die Klimakrise, die Pandemie, der Krieg in der Ukraine – lösen in vielen Menschen ein Gefühl der Ohnmacht aus, sie verzweifeln daran und haben das Gefühl, dass wir irgendwie auf die Katastrophe zusteuern. Wenn Sie jetzt mal abstrahieren von dem, was Sie in Ihrer Recherche erfahren haben über Widerstandskraft, was kann man solchen Menschen raten? Ganz konkret jetzt in dieser Situation?
Martens: Ich meine ja, das Wichtigste ist, dass wir einige Irrwege vermeiden. Viele betäuben sich einfach. Betäuben kann man sich mit extensiver Handybenutzung oder Spielen und Streamingdienste nutzen und so weiter. Also einfach: Ich will gar nicht mehr daran denken. Der zweite Irrweg ist, dass man Narkotika benutzt, also sich betrinkt. Der dritte ist, dass man es verdrängt.
Wenn man die vermeidet, wenn man tatsächlich darangeht, sich damit auseinanderzusetzen, das ist auch einer der Resilienzfaktoren. Wenn man zum Beispiel mit einem Freund darüber redet und sich fragt: Was kann ich denn machen? Und dann vielleicht wirklich was macht, also jemandem hilft.
Ich kenne viele Menschen, die tatsächlich den Flüchtlingen zum Beispiel helfen. Dann belastet es einen auch nicht mehr. Denn das, was einen so sehr belastet, gerade in diesem Fall, ist ja die Ohnmacht, die wir haben. Wir können nichts tun, wir können den Krieg nicht beenden. Doch wir können was dagegen tun. Wir können zum Beispiel eben Flüchtlingen helfen oder anderen helfen.
Oder es hilft schon, das ist viel untersucht: darüber schreiben. Mal die eigenen Gedanken aufschreiben, vielleicht per E-Mail mit Freunden in Kontakt gehen: Was hältst du davon? Also, wir können etwas tun. Und sowie wir aktiv werden, fällt es uns sehr viel leichter, so was zu ertragen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.