Respektvoller Zuhörer
Normalerweise finden Exerzitien hinter dicken Mauern statt. Der Jesuitenpater Christian Herwartz hat die Meditationspraxis auf die Straße geholt. Manche Menschen können dabei auf der Suche nach <em>ihrem</em> Ort sogar lang verdrängte Ereignisse in der eigenen Lebensgeschichte wiederentdecken.
"Also, wenn ich ins Hören komme, dann spüre ich ne Ebene von Gespräch, die ganz neu ist. Dann kann ich in ein Gespräch eintreten. Gespräch ist ja das Gebet. Also das Sprechen oder Kommunizieren mit den Grundwerten in meinem Leben – ob ich sie Gott nenne oder wie auch immer. Und wenn ich in dieses Grundgespräch eintreten kann, dann verändert sich was ganz Zentrales."
Christian Herwartz sitzt mir in seiner Küche gegenüber und spricht über "sein" Lebensthema. Ins Hören kommen oder auch: respektvoll hören. Dahinter steht für den 69-jährigen Jesuiten, geboren in Stralsund, mehr als nur dem anderen ein Ohr zu leihen. Es bedeutet, offen zu werden für die Wahrnehmung im Augenblick - ohne abzuschweifen, ohne zu bewerten und ohne zu urteilen.
Das sagt sich einfach, ist aber in der Realität gar nicht so leicht umzusetzen:
"Wir werden trainiert durch alles, durch Schule, durch Beruf, nicht im Jetzt zu leben. Wir leben immer wieder auf ein Ziel hin, oder noch in der Vergangenheit. In diesem Jetzt, wo wir grade sind, kommen wir ganz selten an."
Im Jetzt ankommen, und respektvoll zu sehen und zu hören – dafür hat Christian Herwartz vor rund zehn Jahren eher zufällig eine ganz eigene Methode entwickelt. "Straßenexerzitien" nennt er diese Übungen in Anlehnung an eine lange Tradition seines Ordens. Bei den Jesuiten sind Exerzitien geistige Übungen, um schweigend und betend Gott näher zu kommen.
Herwartz hat diese Übungen aus den gediegenen, ordenseigenen Häusern raus auf die Straße geholt, mitten in den bunten und lauten Berliner Bezirk Kreuzberg:
"Es war eine Frau, die wollte an einen stillen Ort gehen, weil sie so in der Stille ne Heilung gesucht hat. Und auf keinen Fall ans Kottbusser Tor, das ist ja ein lauter Ort. Und irgendwie ist sie innerlich hierher geführt worden und hat diesen Ort als ganz stillen Ort erlebt, als einen, wo sie bei sich bleiben konnte, und alles ist drumrum gewabert, hin und her gegangen, aber sie ist in eine tiefe innere Stille gekommen, das ist dieser Ort auch, aber das kann man nicht verschreiben. Das ist das Geschenk, das man bekommt, wenn man's sucht."
Bei den Straßenexerzitien begeben sich Männer und Frauen acht Tage lang auf die Straße, um ihren Ort zu finden, an dem sie ins Hören kommen können – auf andere oder auf sich selbst, um vielleicht lang verdrängte Ereignisse in der eigenen Lebensgeschichte wieder zu entdecken.
Gemeinsam übernachten sie in einer sehr einfachen Unterkunft, ziehen tagsüber alleine los und kommen abends wieder zusammen, um in der Gruppe zu essen, Gottesdienst zu feiern und sich von ihren Erlebnissen zu erzählen:
"Sie sind, sagen wir mal vor einem Gefängnis gewesen oder auf einer Bank mit einem Obdachlosen, und beim Erzählen merken sie – vielleicht erst am zweiten, dritten Tag – ich habe Angst vor Obdachlosigkeit. Ich lebe in der Angst, ins Gefängnis zu kommen, Gesetzesüberschreitungen zu machen, und ich hab die Angst verloren."
Bevor Herwartz das Hören in den Straßenexerzitien anderen vermitteln konnte, hat er selbst viele Male hören gelernt. Lange hieß das für ihn, seinem Wunsch treu zu bleiben, den er schon als Junge entdeckt hatte: Dem anderen, Fremden, auf Augenhöhe zu begegnen. Aber wie? Damals dachte er an Mission und schaute sich verschiedene Orden an. Doch die Distanz, die Ordensleute durch ihre Kleidung und ihren ganz eigenen Alltagsrhythmus signalisieren, hat ihn abgehalten.
Bis er die großen Freiräume bei den Jesuiten entdeckte: Keine Mönchstracht, kein Heimatkloster als Lebenszentrum und auch kein fixer Tagesablauf. Er ließ sich ein, studierte und zog dann nach Frankreich, um dort als Arbeiterpriester in die Fabrik zu gehen und mit den Kollegen Gemeinschaft zu leben.
Heute, knapp 40 Jahre später, sitzt er mir im ausgewaschenen roten T-Shirt und tätowierten Armen in seiner WG-Küche gegenüber. Seit seiner Rückkehr aus Frankreich lebt er hier mit wechselnden Mitbewohnern aus aller Welt radikal Gastfreundschaft: Die Tür steht offen für Menschen in Not und Menschen auf der Suche. Seine Offenheit und sein jahrelanges Training im respektvollen Hören sind inzwischen auch in seinem Orden hoch geschätzt. Zuletzt, als es 2010 darum ging, einen neuen Umgang mit Missbrauchsopfern zu finden.
Angeregt vom damaligen Schuldirektor in Berlin, hat Christian Herwartz beiden zugehört, Opfern und Tätern:
"Das Wichtige ist, den Opfern zuzuhören, und in dem Zuhören die Chance zu geben, dass sie nicht Opfer bleiben. Aber das gilt natürlich für die Täter genau so, dass sie aus dieser Erstarrung, den anderen zu missbrauchen, austreten können. Und da ist es ganz wichtig, dass ich nicht der Bessere bin, und dass ich mich nicht raushalte, dass ich mich nicht rausziehe aus dieser menschlichen Beziehung, die da ist. Die da ist zu den Opfern, aber auch zu den Tätern, und die mich nicht auf einer Seite festhält. Und die mir zeigt, dass ich beide Seiten in mir habe, diese Dinge weiter wirken zu lassen und darüber offen zu werden für das, was jetzt dran ist."
Mehr zum Thema auf dradio.de:
"Weil die Gedanken einen Rhythmus bekommen" - Ein Klinikseelsorger über den therapeutischen Wert des Gehens, (DKultur, Religionen)
Christian Herwartz sitzt mir in seiner Küche gegenüber und spricht über "sein" Lebensthema. Ins Hören kommen oder auch: respektvoll hören. Dahinter steht für den 69-jährigen Jesuiten, geboren in Stralsund, mehr als nur dem anderen ein Ohr zu leihen. Es bedeutet, offen zu werden für die Wahrnehmung im Augenblick - ohne abzuschweifen, ohne zu bewerten und ohne zu urteilen.
Das sagt sich einfach, ist aber in der Realität gar nicht so leicht umzusetzen:
"Wir werden trainiert durch alles, durch Schule, durch Beruf, nicht im Jetzt zu leben. Wir leben immer wieder auf ein Ziel hin, oder noch in der Vergangenheit. In diesem Jetzt, wo wir grade sind, kommen wir ganz selten an."
Im Jetzt ankommen, und respektvoll zu sehen und zu hören – dafür hat Christian Herwartz vor rund zehn Jahren eher zufällig eine ganz eigene Methode entwickelt. "Straßenexerzitien" nennt er diese Übungen in Anlehnung an eine lange Tradition seines Ordens. Bei den Jesuiten sind Exerzitien geistige Übungen, um schweigend und betend Gott näher zu kommen.
Herwartz hat diese Übungen aus den gediegenen, ordenseigenen Häusern raus auf die Straße geholt, mitten in den bunten und lauten Berliner Bezirk Kreuzberg:
"Es war eine Frau, die wollte an einen stillen Ort gehen, weil sie so in der Stille ne Heilung gesucht hat. Und auf keinen Fall ans Kottbusser Tor, das ist ja ein lauter Ort. Und irgendwie ist sie innerlich hierher geführt worden und hat diesen Ort als ganz stillen Ort erlebt, als einen, wo sie bei sich bleiben konnte, und alles ist drumrum gewabert, hin und her gegangen, aber sie ist in eine tiefe innere Stille gekommen, das ist dieser Ort auch, aber das kann man nicht verschreiben. Das ist das Geschenk, das man bekommt, wenn man's sucht."
Bei den Straßenexerzitien begeben sich Männer und Frauen acht Tage lang auf die Straße, um ihren Ort zu finden, an dem sie ins Hören kommen können – auf andere oder auf sich selbst, um vielleicht lang verdrängte Ereignisse in der eigenen Lebensgeschichte wieder zu entdecken.
Gemeinsam übernachten sie in einer sehr einfachen Unterkunft, ziehen tagsüber alleine los und kommen abends wieder zusammen, um in der Gruppe zu essen, Gottesdienst zu feiern und sich von ihren Erlebnissen zu erzählen:
"Sie sind, sagen wir mal vor einem Gefängnis gewesen oder auf einer Bank mit einem Obdachlosen, und beim Erzählen merken sie – vielleicht erst am zweiten, dritten Tag – ich habe Angst vor Obdachlosigkeit. Ich lebe in der Angst, ins Gefängnis zu kommen, Gesetzesüberschreitungen zu machen, und ich hab die Angst verloren."
Bevor Herwartz das Hören in den Straßenexerzitien anderen vermitteln konnte, hat er selbst viele Male hören gelernt. Lange hieß das für ihn, seinem Wunsch treu zu bleiben, den er schon als Junge entdeckt hatte: Dem anderen, Fremden, auf Augenhöhe zu begegnen. Aber wie? Damals dachte er an Mission und schaute sich verschiedene Orden an. Doch die Distanz, die Ordensleute durch ihre Kleidung und ihren ganz eigenen Alltagsrhythmus signalisieren, hat ihn abgehalten.
Bis er die großen Freiräume bei den Jesuiten entdeckte: Keine Mönchstracht, kein Heimatkloster als Lebenszentrum und auch kein fixer Tagesablauf. Er ließ sich ein, studierte und zog dann nach Frankreich, um dort als Arbeiterpriester in die Fabrik zu gehen und mit den Kollegen Gemeinschaft zu leben.
Heute, knapp 40 Jahre später, sitzt er mir im ausgewaschenen roten T-Shirt und tätowierten Armen in seiner WG-Küche gegenüber. Seit seiner Rückkehr aus Frankreich lebt er hier mit wechselnden Mitbewohnern aus aller Welt radikal Gastfreundschaft: Die Tür steht offen für Menschen in Not und Menschen auf der Suche. Seine Offenheit und sein jahrelanges Training im respektvollen Hören sind inzwischen auch in seinem Orden hoch geschätzt. Zuletzt, als es 2010 darum ging, einen neuen Umgang mit Missbrauchsopfern zu finden.
Angeregt vom damaligen Schuldirektor in Berlin, hat Christian Herwartz beiden zugehört, Opfern und Tätern:
"Das Wichtige ist, den Opfern zuzuhören, und in dem Zuhören die Chance zu geben, dass sie nicht Opfer bleiben. Aber das gilt natürlich für die Täter genau so, dass sie aus dieser Erstarrung, den anderen zu missbrauchen, austreten können. Und da ist es ganz wichtig, dass ich nicht der Bessere bin, und dass ich mich nicht raushalte, dass ich mich nicht rausziehe aus dieser menschlichen Beziehung, die da ist. Die da ist zu den Opfern, aber auch zu den Tätern, und die mich nicht auf einer Seite festhält. Und die mir zeigt, dass ich beide Seiten in mir habe, diese Dinge weiter wirken zu lassen und darüber offen zu werden für das, was jetzt dran ist."
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"Weil die Gedanken einen Rhythmus bekommen" - Ein Klinikseelsorger über den therapeutischen Wert des Gehens, (DKultur, Religionen)