Restaurator Günter Müller

Der Herr der Aschebücher geht in Rente

Günter Müller arbeitet in der Restaurierungswerkstatt für brandgeschädigtes Schriftgut in Weimar an teilweise verkohlten Bücherseiten.
Günter Müller arbeitet in der Restaurierungswerkstatt für brandgeschädigtes Schriftgut in Weimar an teilweise verkohlten Bücherseiten. © dpa / picture alliance / Martin Schutt
Von Henry Bernhard |
Der Restaurator Günter Müller ist inzwischen weltweit bekannt, er und seine Werkstatt. In diesen Tagen endet für ihn die Arbeit an den Folgen der Weimarer Brandkatastrophe von 2004.
"Da ist er!" ruft Helmut Seemann in die kleine Runde. Hellmut Seemann ist der Präsident der Klassik Stiftung Weimar. Und ER ist Günter Müller. Ein älterer Herr, zweifelsohne Rentner, möchte man meinen.
Hellmut Seemann: "Ja, ich sollte begrüßen. Wo ist denn Herr Müller? Kommen Sie doch mal zu mir! Auf diesen Punkt."
Seemann lotst Müller neben sich. Dem ist das fast zu viel Rummel. Und doch genießt er ihn.
Hellmut Seemann: "Wir sind heute hier zusammengekommen, als ob ein Mitarbeiter der Klassik Stiftung hochverdient, langjährig, in den Ruhestand versetzt werde. Nichts daran ist wahr!"
Günter Müller: "Nee!"
Hellmut Seemann: "Er ist kein Mitarbeiter, nie gewesen. Er ist auch nicht in den Ruhestand zu versetzen, denn in dem ist er eigentlich seit – ich weiß nicht – 15 Jahren."
Günter Müller: "Seit 2004."
Hellmut Seemann: "Seit 2004. Und was machen wir dann hier?"
Hellmut Seemann ist in seinem Element, der Rede. Und Günter Müller hört ihm gebannt, aber auch belustigt und geschmeichelt zu. Nach ein paar Minuten ist die Rede in der gesichtslosen Firmenkantine im Gewerbegebiet Legefeld bei Weimar zu Ende.
Günter Müller: "Aber ich setze mich nicht zur Ruhe!"
Hellmut Seemann: "Na ja, eben, können Sie ja auch gar nicht!" (Lachen)
Jenseits der drögen Kantine liegt Günter Müllers Reich – seine Restaurierungswerkstatt. Hier hat er in den vergangenen Jahren Tausende Bücher restauriert, Bücher, die "Aschebücher" genannt werden und die auch so aussehen. Doch beim Betreten der Werkstatt sieht man kein Blatt Papier, schon gar kein Buch, sondern nur Geräte aus Edelstahl, die aussehen, als stünden sie in einer Großküche, und Regale mit grauen Pappschachteln.
Wie man verrußte Buchseiten waschen kann
Günter Müller: "Nun stellen Sie sich das bildlich bitte mal vor: Etwa 28.000 solcher Schachteln! Was für eine gewaltige Aufgabe da ist! Glücklicherweise ist das alles schon dokumentiert. Das ist z.B. eine hebräische Druckschrift; die fängt von hinten an."
Müller war schon drei Jahre in Rente, als vor elf Jahren die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar brannte. 2007 hat er wieder angefangen zu arbeiten und ein Verfahren entwickelt, in dem über Nacht hunderte Buchseiten auf einmal gewaschen werden können, so dass Ruß, Schlamm, Gifte entweichen. Am Morgen darauf beginnt der Zauber, der aus einem verkohlten Buch-Rest wieder ein Buch macht.
Günter Müller: "Das ist das flüssige Papier, ja!"
Er schöpft mit einer Kelle eine milchige Flüssigkeit aus einem Kübel.
Günter Müller: "In diesem Gerät wird eigentlich flüssiges Papier automatisch an alle Fehlstellenbereiche geleitet, das heißt: an klaffende Risse, an verbrannte Randstellen, wo das Papier fehlt. Das wird ergänzt mit flüssigem Papier. Und jetzt beginnt eigentlich die Schwierigkeit, wie es dann zu einem Blattgefüge kommt, dass es also eine dauerhafte Verbindung mit dem Original eingeht. Und diese Verbindung wird hergestellt mit diesem speziellen Japan-Papier, das Sie hier sehen ..."
Es umschließt die Originalseiten auf der Vorder- und Rückseite und hinterlässt einen feinen milchigen Schleier auf den historischen Seiten. Nachdem sie getrocknet sind, lassen sich die vormals spröden und angebrannten Seiten wieder blättern wie ein neues Buch. Für Günter Müller begann die Auseinandersetzung mit dem Thema nicht erst 2004, sondern viel früher.
"Die Entwicklung des Jenaer Papierspaltverfahrens war eine Notlösung. Ich fing also 1960 an an der Universitätsbibliothek zu arbeiten in Jena. Und mit dem Mauerbau war alles isoliert, es gab keine Restaurierungsmaterialien, nichts. Und da sagte mein damaliger Direktor: Herr Müller, entweder lassen Sie sich was einfallen, oder Sie müssen einen neuen Beruf ergreifen! Wir können nichts mehr restaurieren."
Zum Erstaunen der Gäste bei seiner Abschiedsfeier erzählt Müller davon, wie er schon sein ganzes Berufsleben lang gegen die Konsequenzen aus einer Katastrophe anarbeiten mußte: In Jena gegen die Bombenschäden vom März 1945, in Weimar gegen die Folgen der Brandkatastrophe vom 2. September 2004. Sein großes Thema ist die "Massentauglichkeit" von Verfahren, so dass eine von ihm restaurierte Seite 5 statt früher 80 Euro kostet. Knapp acht Jahre ist die Legefelder Werkstatt nun in Betrieb. Seitdem wurden fast eine halbe Million Blätter restauriert, weitere 700.000 Blatt stehen noch an. Arbeit für über zehn Jahre. Aber ohne Günter Müller. Der aber geht schon wieder nicht in den Ruhestand:
"Und Sie wissen ja selber, dass die Katastrophen die vorhergehenden in immer kürzerer Zeit überlagern. Und meine Aufgabe ist eigentlich, in den nächsten Jahren – das habe ich mir als Ziel gesetzt –, dass ich meine Erfahrungen vor allem dort an den Mann bringe, wo wir Weltkulturerbe retten können auf Papiersubstanz. Ich spreche von Sammlungen wie Timbuktu, aber auch von den Papierdokumenten im Vatikan. Oder ich denke an die Brandkatastrophe in der Akademiebibliothek in Moskau in diesem Jahr."
Hellmut Seemann: "Man kann es sich offen gestanden auch gar nicht anders vorstellen, Herr Müller! (Lachen) Wir wollen aber die Katastrophen nicht herbeiwünschen, damit Sie quereinsteigen können." (Lachen)
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