"Retelling" von Literaturklassikern
Mark Twains Romanfigur Huckleberry Finn in einer Buchillustration von 1884. Dem "Retelling" seiner Abenteuer - ein Schlüsselwerk der US-amerikanischen Literatur - würde er vermutlich gelassen gegenüberstehen. © IMAGO / Gemini Collection / IMAGO / Gemini
Alte Literatur umschreiben? Das machen wir doch schon immer!
Sollte man Klassiker der Weltliteratur heutigen Vorstellungen anpassen oder sind sie unantastbar? Verlagsvertreter und Publizist Michael Schikowski ruft zum genauen Hinsehen auf: Umschreibungen und Bearbeitungen gab es schon immer.
Man muss der Wokeness, um das gleich vorneweg zu sagen, dankbar sein. Ich jedenfalls bin ihr sehr dankbar. Kaum etwas hat das gute alte Buch derart in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wie diese Bewegung. Und noch mehr. Kaum eine Bewegung der letzten Jahre hat an die Veränderung durch die Literatur derart inbrünstig geglaubt. Ich liebe sie einfach.
Zur Wokeness gibt es in meiner Generation zwei Formen der Reaktion: schmallippiges Schweigen und Kopfschütteln. Alles will man ändern und erneuern. Aber auch darin muss man sie einfach gernhaben, denn was ist kulturelle Lebendigkeit anderes als Adaption? Adaption stand aber immer schon in einer gewissen Spannung zum Ursprungstext, als Überbietung, Korrektur oder gar Parodie.
Bücher werden ernst genommen
Zeitgemäß ist die unter dem Begriff Retelling neue Form der Adaption zugleich mit einem neuen, wichtigen Anspruch verbunden. So wird etwa beim Retelling die griechische Sagenwelt modern und feministisch erzählt. Ein Literaturphänomen, das uns zum Beispiel in den Büchern von Madeline Miller begegnet. Wer darin Verrat am Alten wittert, dem sei mitgeteilt, dass das gesamte Neue Testament nichts Weiteres ist als Überbietung, Korrektur und Parodie des Alten.
Die Aufregungen über Eingriffe und Tilgungen in klassisch gewordenen Texten mag von verschiedenen Seiten her verständlich sein. Nur hat man nicht unbedingt den Eindruck, dass es den Kontrahenten wirklich um die Literatur zu tun sei – weder denjenigen, die bestimmte Begriffe zu tilgen wünschen, noch denjenigen, die das Bestehen der Begriffe erbittert verteidigen. Am fest gebundenen Buch lässt sich nur viel leichter exekutieren, was bei den unendlich vielen Formen der überaus fluiden digitalen Medien misslingen muss – es hält einfach still.
Aber auch darin liegt eine im Grunde fröhlich stimmende Dialektik – kaum je zuvor wurden Bücher so unfassbar ernst genommen. Und hervorragend verkauft, wie nun der Roman "Tauben im Gras" eines gewissen Wolfgang Koeppen, dem gerade seine Rassismus-Schilderung der 50er-Jahre vorgeworfen wird.
Eingriffe in die Jugendliteratur
Im guten Glauben, Texte und ihre unveränderte Überlieferung zu verteidigen, bleibt unbeachtet, dass es vor allem in der Jugendliteratur immer schon erhebliche Eingriffe gegeben hat. So ist im Original über Robinson Crusoe zu lesen, dass er ein Plantagenbesitzer in Brasilien sei, der mit anderen Plantagenbesitzern den Plan ausheckt, die Beschränkungen der Könige von Spanien und Portugal beim Kauf von schwarzen Sklaven durch eine eigene Reise zu umgehen. In der Jugendausgabe von Käthe Recheis erscheint Robinson Crusoe eher als ein ehrbarer Kaufmann. Erst im Nachwort klärt sie über die wahren Verhältnisse auf.
Und an Mark Twain lässt sich schnell zeigen, wie sehr sich unser Gedächtnis täuscht: Das große Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn endet damit, dass Jim (ein erwachsener Mann mit Kindern) freiwillig zurückkehrt in die Sklaverei. Wer erinnert sich schon daran?
Rettung klassischer Stoffe durch Neuerzählungen
Eine reizvolle Aufgabe für Autorinnen und Autoren läge für die Zukunft darin, die klassischen Texte der Jugendliteratur neu zu erzählen. Pamela Travers "Mary Poppins" könnte so im Sinne des Feminismus erscheinen. In Robert L. Stevensons "Schatzinsel" lässt sich eine an David Graeber gemahnende Kapitalismuskritik anknüpfen, die die Piraterie neu deutet. Für Mark Twains "Prinz und Bettelknabe" bietet es sich an, das Thema Klassismus anschaulich zu erzählen. Wer sich Selma Lagerlöfs "Nils Holgersson" widmet, wird um den Klimawandel nicht herumkommen. Jules Vernes "In 80 Tagen um die Welt" eignet sich zur Globalisierungskritik und schließlich kann – oder muss – Daniel Defoes "Robinson Crusoe" für einen postkolonialen Diskurs reformuliert werden.
Die Rettung klassischer Stoffe bestand schon immer darin, sie neu zu erzählen – und immer traf die Gralshüter der Texte der Schlag, während sich nachwachsende Leserinnen und Leser gewinnen ließen. Ein Argument, das stechen sollte.