Hagen: Gaffer filmen sterbendes Baby.
Wie mitmenschlich sind wir in Gefahrensituationen?
29:56 Minuten
Gaffer stören Rettungsarbeiten, filmen Unfallopfer. Menschen sehen weg, wenn andere angegriffen werden. Es gibt aber auch die, die helfen und sogar Leben retten. Ob die Verrohung oder das Helfen zunehmen, hat sich Brigitte Schulz genauer angesehen.
"Ich denke, dass heute eher rechts liegen gelassen wird, als dass sofort geholfen wird. Jeder guckt heutzutage nur noch nach sich selber, anstatt zu helfen."
"Wir helfen heute nicht weniger als früher, es gibt keine Verfallserscheinungen der Kultur des Helfens. Nein, wir leben in einem Land, wo Ihnen und mir im Prinzip geholfen wird, wenn wir in Not geraten."
"Es gab Gaffer, als die Feuerwehr da war, die Straße voll, die war voll mit zuckenden Handys und Beschwerden, dass es zu laut ist. Und Asche stieg hoch durch die Löschung von der Feuerwehr, und viele haben sich beschwert, dass die Autos dreckig sind. Das war viel wichtiger, als zu fragen, was ist da passiert gerade oder geht es den Menschen gut, das war viel, viel wichtiger."
Die Nachrichten häufen sich: Schaulustige behindern Rettungsarbeiten, filmen Unfallopfer, Sterbende und Tote. Menschen sehen weg, wenn andere Hilfe brauchen oder greifen Sanitäter und Feuerwehrleute an.
Ein Volvo rast in einen Kinderwagen, ein Baby stirbt, gefilmt von sensationshungrigen Passanten. Um dem Unfall möglichst nah zu sein, behindern die sogenannten Gaffer die Rettungsarbeiten – und das, obwohl schon das bloße Filmen oder Fotografieren eines Verletzten mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Ein Jahr zuvor wurde vor dem Hagener Hauptbahnhof ein Mädchen angefahren und schwer verletzt – sofort war es von einer Traube filmender Gaffer umringt. Als die Polizei Tücher spannte, um das Unfallopfer abzuschirmen, rissen Schaulustige sie herunter.
"'Schämt euch, ihr Gaffer vom Hauptbahnhof!", twitterte die Hagener Polizei.
Sind dies Einzelfälle oder leben wir mittlerweile in einer gleichgültigen und verrohten Gesellschaft, wie viele behaupten? Heinz Albert Stumpen von der deutschen Hochschule der Polizei:
"Das sind bedauerliche Einzelfälle, jedenfalls wenn es zu solchen exzessiven Angelegenheiten kommt, dass Menschen sich nicht bewegen lassen und mit unmittelbarem Zwang von Polizei davon abgehalten werden müssen, jetzt noch näher an den Unfallort, an das Opfer heranzugehen. Das sind wirklich Einzelfälle. Ich glaube, die Regel ist, dass man darauf hoffen darf, dass jemand kommt, der einem hilft."
Wir wollen wissen, wie professionelle Retter, zum Beispiel die Feuerwehr, darüber denken und fahren nach Osnabrück, eine Stadt mit rund 170.000 Einwohnern.
20 hauptberufliche Feuerwehrleute arbeiten hier: Sie sind zugleich Rettungssanitäter, löschen Brände und werden zu Unfällen auf Straßen und Autobahnen gerufen:
"Bei den Einsätzen, die wir so tagsüber abarbeiten, hat man eigentlich immer Gaffer. Und man hat immer Leute, die Smartphones, iPhones auf Aufnahme haben und eigentlich die ganze Zeit mitfilmen. Man kann sagen: Seit drei, vier Jahren läuft das ständig. Man wird ständig beobachtet."
Schaulustige bringen sich selbst in Gefahr
Die Bilder verbreiten sich in sozialen Netzwerken, wo Unbeteiligte dann diskutieren, ob die Feuerwehr das Richtige getan hat – eine enorme Belastung für die Rettungskräfte.
Doch Gaffer behindern nicht nur Helfer und verstoßen gegen das Persönlichkeitsrecht: Sie bringen auch sich selbst in Gefahr, so Jan Südmersen, Einsatzleiter der Osnabrücker Feuerwehr:
"Wir hatten neulich einen Dachstuhlbrand, wo eigentlich der Bereich durch ein Flatterband abgeriegelt war, komplett auch gekennzeichnet war, und trotzdem hielt es jemand für notwendig, da einmal quer durchlaufen zu müssen, damit er was sehen kann. Ist dann auch über irgendwas gestolpert und lag dann halt mitten vor dem Gebäude auch im Trümmerschatten. Und da mussten wir alles unterbrechen, um diese Person da raus zu retten, gucken, ob er sich auch verletzt hat. Das unterbricht alles natürlich und ist nicht gerade unterstützend für die ganze Geschichte."
Dass man hinschaut, wenn es brennt oder sich ein Unfall ereignet, sei eine normale Reaktion, so Südmersen – auch, um sich selbst zu schützen und eventuell Erste Hilfe zu leisten. Außerdem habe die Öffentlichkeit ein Recht darauf, informiert zu werden, deshalb informiert die Feuerwehr selbst via Twitter oder Facebook über aktuelle Einsätze. Erstaunlich, dass einige Bürger sich darüber beschweren – sie möchten nichts von Bränden und Unfällen wissen, während die Rettung einer Katze oder einer Entenfamilie immer begeistern.
Relativ neu ist, dass Schaulustige bei Unfällen oder Bränden nur schwer oder gar nicht dazu zu bewegen sind, den Unfallort zu verlassen, sagt Jan Südmersen:
"Dass es in unserer Zeit etwas grober und rauer zugeht, das haben alle mitbekommen. Wir hatten auch schon Mitarbeiter, die verletzt worden sind, die angegriffen worden sind, dass die Mitbürger und die Patienten sich sehr oft aggressiv verhalten, das ist vielleicht ein Umstand, der sich verändert hat in den letzten zehn, 20 Jahren. Das hängt auch wieder damit zusammen, dass der Respekt gegenüber Hilfsorganisationen, Feuerwehr abgenommen hat. So bauchmäßig und gefühlsmäßig ist es schon so, dass es zwei Positionen gib: Entweder man wird als Feuerwehr, als Rettungsdienst als Guter empfunden, oder man wird eben rundherum abgelehnt. So einen Zwischenschritt gibt es da selten: Entweder sind wir die Guten oder die Bösen für den Bürger."
Ein Kurzfilm gegen das "Gaffertum"
"Sie behindern den Einsatz, zurücktreten!"
"Wir wollen doch nur mal schauen, was los ist."
"Jetzt hör doch mal auf mit der Scheiße!"
"Ganz ruhig bleiben."
"Wir wollen doch nur gucken, was hier los ist."
(Aus dem Film "Sei kein Gaffer")
"Wir wollen doch nur mal schauen, was los ist."
"Jetzt hör doch mal auf mit der Scheiße!"
"Ganz ruhig bleiben."
"Wir wollen doch nur gucken, was hier los ist."
(Aus dem Film "Sei kein Gaffer")
Die freiwillige Feuerwehr Osnabrück bei einem ungewöhnlichen Einsatz: Sie spielt mit in dem Kurzfilm "Sei kein Gaffer", den zwei junge Filmemacher der Medienagentur "Blickfänger" produzierten. Für die drei Drehtage stellte die Feuerwehr Löschwagen und Rettungsequipment zur Verfügung: ein Versuch, etwas gegen das "Gaffertum" zu unternehmen. In den sozialen Netzwerken ist der Film ein Hit, über 20 Millionen Million Mal wurde er bisher angeklickt. Die Handlung: Drei junge Urlauber sind auf dem Weg nach Hause, als sie Zeugen eines Unfalls werden – die Feuerwehr ist schon vor Ort.
Sie steigen aus und beginnen zu fotografieren. Das Auto ein brennendes Wrack, am Boden liegt ein Schwerverletzter, umringt von Sanitätern der Feuerwehr. Die Fotos schicken die drei Sensationshungrigen über WhatsApp an Freunde und Familie. Als der Hauptakteur die Bilder an seine Mutter schickt und diese nicht antwortet, ruft er sie an: Das Telefon neben dem verbrannten Auto und der verkohlten Leiche klingelt. Sie ist das Unfallopfer.
Die Handlung sei vielleicht etwas überspitzt, meint Feuerwehrfrau Britta Lückener, doch viele Details seien durchaus realistisch. Ihr gefällt, dass der Film an Empathie und Mitgefühl appelliert, indem er zeigt, Angehörige oder man selbst könnten Verkehrsopfer sein – eine Strategie, die auch sie anwendet:
"Es gibt Menschen, die filmen Verletzte. Und als helfende Person würde ich die dann bitten, davon Abstand zu nehmen und sage denen dann: 'Wie wäre das, wenn Sie hier liegen würden und würden von jemand Fremden gefilmt?'. Dann hilft das oft schon, dass man das einstellen kann, aber man muss sie definitiv bitten und definitiv hat man keine rechtlichen Maßnahmen, außer sich die Polizei zur Hilfe zu holen."
Osnabrück: Passanten löschen 52-Jährigen.
"Wir hatten eine Person, die hat sich in der Fußgängerzone angezündet. Für uns Kollegen war das ein sehr schwerer Einsatz, auch psychisch. Da waren sehr viele Leute, die das gefilmt haben. Die wurden von der Polizei auch sofort angeschrieben und auch weggeschickt und danach noch ein Sichtschutz aufgestellt."
Es waren Passanten, die als Erste halfen: Sie erstickten die Flammen mithilfe von Decken. Dennoch ist der Schwerverletzte auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.
Berlin: Herzinfarkt am Steuer - Retter stoppt Auto mit kollabiertem Fahrer.
Es gibt sie also doch, die Guten, die helfen und sogar Leben retten. Oder sind sie mittlerweile die Ausnahme? Um dieser Frage nachzugehen, führt der nächste Weg nach Hamburg zu dem Historiker Tillmann Bendikowski. In seinem neusten Buch geht er der Geschichte des Helfens nach sowie der Frage, warum wir für andere da sind – so lautet der Untertitel. Sein Standpunkt ist eindeutig, wenn es darum geht, das Verhalten von sogenannten Gaffern einzuordnen:
"In solchen Fällen haben wir es mit einer Verrohung zu tun, sicherlich mit einer abnehmenden Distanz zu Menschen und zu Unglück - wobei die Ursache dafür wohl sehr viel mehr in der Nutzung der neuen Medien zu suchen ist, als in einer mangelnden Hilfsbereitschaft: Das völlig ungehemmte Filmen und Aufnehmen des Lebens ungefragt, das auf jeder Familienfeier anfängt und auf jeder Kreuzung sich fortsetzt und bei jedem Verkehrsunfall. Ich denke, das gehört zusammen. Die Verrohung, die wir da verspüren ist eine mediale Verrohung. Aber bitte, sie berührt nicht das, wovon ich immer überzeugt bin, den Kern von einer Kultur des Helfens, weil die ist stabil."
Verschärftes Urheberrecht gegen mediale Verrohung
Dass dies so sei, zeige auch die Tatsache, dass es nur wenige Anzeigen wegen unterlassener Hilfeleistung gebe, so Bendikowski.
Bendikowski ist für eine Verschärfung des Urheberrechts am eigenen Bild. Außerdem sind für ihn die Medien mitverantwortlich für die Tendenz, alles sehen und filmen zu wollen:
"Dazu gehören auch solche Kampagnen wie von Lokalradios- und Zeitung: jeder Hörer, jeder Leser ein Reporter. Die bekommen sogar Geld dafür. Und dann tun sich diese Medien damit hervor, dass sie über die Gaffer schimpfen, von denen sie leben, und die sie selber angereizt und finanziert haben. Na, das ist einfach nur verlogen."
Warum Menschen helfen, sei noch nicht hinreichend erforscht, so Tillmann Bendikowski. Es gebe sie aber schon, die Helferpersönlichkeit: Prosoziale Menschen mit Empathie und Mitgefühl, die sich dafür verantwortlich fühlen, was um sie herum passiert. Menschen helfen, weil sie selbst Beistand erfahren haben oder aus Dankbarkeit, dass sie von einem Unglück verschont blieben. Doch Hilfe in extremen Situationen bleibe unberechenbar, so Tillmann Bendikowski:
"Wir können nicht guten Gewissens sagen, wie werde ich wann in welcher Situation wem helfen. In diesen Momenten greifen kaum erklärbare Mechanismen. Wir haben bei großen Unglücksfällen immer wieder Einzelpersonen, die unter Hintanstellung ihrer eignen Sicherheit fremden Menschen zur Hilfe kommen, das sind keine erklärbaren Persönlichkeitsstrukturen. Sie ist unberechenbar, die Hilfe, sie ist nie ganz kalkulierbar, sie ist der Zuckerguss auf der Zivilisation.
Berlin: Postbote rettet nach Unfall vier Menschen aus Flammen-Wrack.
Ein Samstagmorgen im Hochsommer. Der Briefzusteller Pedrag Ivanovic hat mit seinen Kollegen der PIN-AG eine Besprechung auf dem Bürgersteig. Plötzlich nähert sich ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit, überschlägt sich und fängt Feuer.
"Erstmal die Situation abgeschätzt, ob da Leute rausspringen, ob da überhaupt jemand rauskommt. Und als wir Schreie aus dem Wagen gehört haben, da war mir klar, da sind anscheinend Menschen drin, die nicht rauskommen. Wenn man Menschen hört, die in Gefahr sind: Man kann einfach nicht danebenstehen. Einfach die Hände aus dem Wagen gegriffen, die durch den Rauch aus dem Fenster rausguckten, und vier Menschen aus dem Auto rausgezogen. Wo ich mich gewundert habe, dass überhaupt so viele Menschen im Auto saßen."
Sechs Menschen saßen in dem Auto, die alkoholisierte Fahrerin und der Beifahrer konnten ich selbst befreien. Zwei erlitten Verbrennungen dritten Grades, überlebten aber dank der schnellen Reaktion von Pedrag Ivanovic:
"In dem Moment denkt man nicht an Gefahr, wo Leute schreien und schreien, und Gaffer, die von der anderen Seite schon filmen und schreien: 'Weg vom Auto, es explodiert gleich!' Hat mich nicht interessiert. In dem Moment schaltet man auf einen anderen Modus einfach um."
Warum er geholfen hat, erklärt er damit, dass es für ihn selbstverständlich war. Er sei in einer Großfamilie aufgewachsen, in der man füreinander da war. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er teilweise in einem Dorf in Kroatien, wo Nachbarn sich unterstützten.
Wichtig war, dass er sich zutraute, die Verletzten zu retten. Er verfügt über gute Erste-Hilfe-Kenntnisse und wurde bei der Bundeswehr darauf trainiert, in Extremsituationen zu handeln. Ivanovic sieht sich nicht als Helden, doch freut sich, als zwei der Verletzten sich später bei ihm bedanken.
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Mit der Frage des Helfens oder Nicht-Helfens beschäftigen sich auch Experten der Polizeihochschule in Münster. Heinz Albert Stumpen lehrt hier Verkehrswissenschaft und –psychologie. Als ehemaliger Leiter der Verkehrsinspektion Münster war er auch für wichtige Autobahnabschnitte zuständig:
"Ich habe das Gefühl, dass mehr geholfen wird, einfach deswegen, weil mehr Verkehr auf der Straße ist und mehr Menschen an Unfallstellen vorbeikommen. In mehr als der Hälfte der Fälle sind tatsächlich, bevor der Rettungswagen und/oder der Notarzt eingetroffen ist, zivile Ersthelfer, die zufällig vorbeigekommen sind, an die Personen herangetreten, haben denen geholfen, soweit es in deren Möglichkeiten stand. Und ich hatte das Gefühl, dass dieses Bedürfnis zu helfen schon sehr ausgeprägt ist."
Wer ihnen das Leben gerettet hat, erfahren Unfallopfer oft nie, denn es gibt diesbezüglich strenge Datenschutzauflagen. Trotzdem konnte Heinz Albert Stumpen Treffen organisieren, bei denen sich Verunglückte und deren zivile Ersthelfer kennenlernten: Menschen, denen in einer lebensbedrohlichen Situation geholfen wurde, möchten sich oft persönlich bedanken.
Medizinische Kompetenzen bilden Grundlage des Helfens
Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass Menschen öfter helfen, die über medizinische oder psychologische Kompetenzen verfügen. Doch es spielen noch andere Faktoren eine Rolle:
"Es hat viel damit zu tun, wie viele potenzielle Helfer da sind, es gibt diesen sogenannten Bystander-Effekt: Je mehr Leute da sind, desto schwerer wird es für den einen, sich jetzt zu entscheiden, ich gehe jetzt los. Es muss jemand aus der Masse heraustreten, der sich damit auch outet, der vielleicht auch Gefahr läuft, von den anderen 'videografiert" zu werden, obwohl er nicht alles super richtig macht."
Wissenschaftliche Studien belegen den sogenannten "Bystander"- oder "Zuschauer-Effekt": Beginnt jemand zu helfen, machen andere mit. Fragt man Menschen, warum sie bei einem Unfall nichts taten, antworten sie oft, es seien ja noch andere da gewesen, die wahrscheinlich mehr Erfahrung in Erster Hilfe hätten. Andere sagten, sie seien passiv geblieben aus Angst, etwas falsch zu machen oder weil sie gar nicht gewusst hätten, was zu tun sei.
Am nächsten Morgen macht die Autorin der Sendung eine persönliche Erfahrung mit der Theorie des Bystander-Effekts: Als sie in Münster aus dem Hotel tritt, sitzt eine gut angezogene junge Frau reglos auf dem Bürgersteig, den Kopf auf den Knien, daneben ihr Handy. Als die Autorin versucht, sie anzusprechen, stürzen zwei Frauen aus dem Friseursalon gegenüber: Sie würden das schon den ganzen Morgen beobachten, wüssten aber nicht, ob es ernst sei und was sie machen sollten. Gemeinsam ruft man die Feuerwehr: Die junge Frau scheint unter Drogen- oder Alkoholeinfluss zu stehen und wird ins Krankenhaus gebracht.
Bottrop: 50 Gaffer behindern Ärzte – Polizei rückt mit Großaufgebot an.
Dass Menschen in gefährlichen Situationen aus Unsicherheit oder Angst nicht helfen, ist nachvollziehbar. Doch was treibt sie an, freiwillig Leid, Verletzungen oder sogar einen Todeskampf mitanzusehen und dies auch noch zu filmen? Die angeborene Sensationsgier, ist eine These: Schon immer pilgerten Massen zu grausamen Ereignissen wie Gladiatorenkämpfen, Kreuzigungen oder Hinrichtungen. Abstumpfung durch Gewalt in den Medien ist ein weiterer Erklärungsversuch.
Doch die Verkehrspsychologie favorisiert aktuell eine andere Interpretation des Phänomens Gaffen, so Heinz Albert Stumpen von der Hochschule der Polizei in Münster:
"Mittlerweile wird im wissenschaftlichen Kontext, Klammer auf: Dazu gibt es übrigens recht wenige Studien, Klammer zu, diskutiert, dass es eher was damit zu tun hat, ich weiß, es ist paradox und nicht logisch – dass die Konfrontation mit dem, was da passiert ist, mehr Sicherheit verleiht. Erstens, weil ich jetzt hier stehe und gesund bin und sage, mir ist das nicht passiert, ich bin sicherer als der arme Mensch, der da gerade liegt.
Zweitens das Gefühl zu haben, so was passiert mir nicht, ich weiß mir zu helfen, wenn ich in eine solche Situation gerate, weil ich ja immer aufpasse. Und wenn ich sehe, dass ein Lkw auf ein Stauende aufgefahren ist, und viele Tote dabei zu beklagen sind, dann lerne ich für mich daraus, das nächste Mal, wenn ich im Stauende stehe, halte ich drei Meter Abstand zum Vorausfahrenden, damit ich noch ein bisschen ausweichen kann und beobachte aufmerksam im Rückspiegel, ob hinter mir gebremst wird oder nicht."
Zweitens das Gefühl zu haben, so was passiert mir nicht, ich weiß mir zu helfen, wenn ich in eine solche Situation gerate, weil ich ja immer aufpasse. Und wenn ich sehe, dass ein Lkw auf ein Stauende aufgefahren ist, und viele Tote dabei zu beklagen sind, dann lerne ich für mich daraus, das nächste Mal, wenn ich im Stauende stehe, halte ich drei Meter Abstand zum Vorausfahrenden, damit ich noch ein bisschen ausweichen kann und beobachte aufmerksam im Rückspiegel, ob hinter mir gebremst wird oder nicht."
Vom Anblick Schwerverletzter überfordert
Heinz Albert Stumpen weiß aber auch, dass einige Gaffer sich zu viel zumuten: Viele können den Anblick von Schwerverletzten oder Toten nicht verkraften, sie erleiden einen Schock und müssen von Polizeipsychologen mitbetreut werden – wieder eine zusätzliche Belastung für die Rettungskräfte.
Unfallopfer selbst erhalten manchmal noch lange psychologische Unterstützung. Entdecken sie Bilder von ihrem Unglück in den Medien oder im Internet, erleiden sie oft eine zweite Traumatisierung.
"Jetzt würde ich gerne auf Ihre Unterstützung zurückgreifen. Sie sind hier alle Mitfahrer und wenn die Dame gleich um Hilfe bittet, sie wird gleich versuchen, sie anzusprechen, dann würde ich denjenigen auch bitten, was zu machen.
Auf einige gefährliche Situationen kann man sich vorbereiten, zeigt das Antigewalttraining des Landeskriminalamts Berlin: Das heutige Seminar ist ausgebucht, die Teilnehmer sind zwischen 20 und 80 Jahre alt. Sie möchten erfahren, wie sie reagieren könnten, würden sie auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln bedroht oder angegriffen – also zum eigenen Schutz –, aber auch, um anderen zu helfen:
"Dazu muss man sagen, dass Helfen ein großes breites Spektrum umfasst. Also wenn wir vom Helfen sprechen, dann meinen wir nicht zwingend, dass jemand in eine Situation reingehen und sich mit dem Täter auseinandersetzen soll, sondern helfen ist auch, wenn ich als Zeuge einer Straftat die Notbremse ziehe oder die Polizei rufe. Ich kann auch mich selbst in Sicherheit bringen und Hilfe holen: Auch das ist Helfen."
Bianca Kastner weiß, dass es keine Patentrezepte gibt, aber einige Regeln, um zu deeskalieren: Den Täter siezen, um Distanz zu wahren, körperlichen Abstand halten und auf Provokationen nicht eingehen:
"Wenn man einem Betroffenen in einer Gewaltsituation helfen möchte, dann ist es taktisch günstiger, wenn man sich an die betroffene Person wendet und ein Opfer oder ein potenzielles Opfer aus der Situation herauszieht. Man kann zum Beispiel hingehen und sagen: 'Brauchen Sie Hilfe, ist alles in Ordnung?', ohne dass man einem Täter die Schuld zuweist und das Verhalten abwertet. Oder 'Komm, setzen Sie sich doch zu uns rüber oder stellen Sie sich zu uns rüber', und dann symbolisch die Hand in die Richtung halten."
"Was hab ich noch für Möglichkeiten, gerade wenn sich die Situation in der Straßenbahn abspielt, was hätte ich da noch? Notbremse, ja genau irgendjemand kommt immer drauf, notfalls habe ich auch die Notbremse."
Es gibt viele Strategien des Helfens
Überraschend ist der Rat, einem Täter Fluchtanreize zu setzen, indem man ihm beispielsweise die U-Bahntüren öffnet: Ziel ist, die Gewalttat zu verhindern oder zu unterbrechen, so Bianca Kastner. Den Täter zu fassen, sei Aufgabe der Polizei. Braucht man selbst Hilfe, sei es gut, einzelne Leute direkt anzusprechen.
Gibt es einen bestimmten Helfertyp? Forschungsergebnisse zeigen, dass bei körperlicher Gewalt Männer eher einschreiten als Frauen, dass die Helfer ein gutes Selbstwertgefühl und Zutrauen zu ihrer körperlichen Kraft hätten:
"Erst letzte Woche wurde bei Rossmann was geklaut in Massen, ich hab es gesehen, bin hinterhergegangen, hab gesagt, sie sollen mir das Zeug geben, die Polizei ist schon unterwegs, obwohl die Polizei noch gar nicht alarmiert wurde. Nach einem bisschen Rumdiskutieren haben sie es mir gegeben, weil ich körperlich denen natürlich auch überlegen war, Gott sei Dank. Ich glaube, so ein gesundes Selbstbewusstsein gehört einfach dazu, dazwischenzugehen. Dadurch, dass ich körperlich mich überlegen fühle oder einfach eine unglaubliche Präsenz habe. Also ich hab keine Kampfsport-Erfahrung oder sonst was, hab mich auch noch nie in meinem Leben so wirklich geprügelt. Ich glaube, das macht einfach die Ausstrahlung bei mir aus."
Oft sind es überraschende und spontane Reaktionen. Beeindruckt hat Bianca Kastner ein Fall in Köln, den ihr ein Kollege erzählte:
"Der hat erzählt, dass es in Köln einen Fall gegeben hat, wo zwei Täter auf jemanden eingeschlagen haben, und da haben sich Helfer zusammengetan, haben ihre Handys herausgeholt und haben angefangen zu filmen, haben gesagt, guckt mal in die Kamera, wir filmen euch gerade. Und daraufhin sind die sofort geflüchtet. Das sind erfolgreiche Geschichten, mit denen kann man zeigen, dass es Strategien gibt, die nicht immer so klassisch sind. Man kann auch kreativ sein und alles benutzen in so einer Situation, um Tätern einen Fluchtanreiz zu setzen, auch von der Tat abzulenken."
Wichtig ist, dass man überhaupt reagiert, anstatt Bedrohung und Gewalt einfach auszublenden.
New York: 38 Zeugen sahen den Mord und riefen nicht die Polizei.
Dieser Mord von 1964 war Auslöser, den Bystander- oder Zuschauer-Effekt psychologisch zu erforschen. Die 28-jährige Kitty Genovese war vor ihrem Mietshaus in New York mehrfach vergewaltigt und dann erstochen worden. Zunächst konnte sie sich wehren und laut um Hilfe schreien. Über eine halbe Stunde dauerte die Tat. Die "New York Times" berichtete, 38 Zeugen hätten zugesehen, ohne etwas zu tun. Spätere Untersuchungen bezweifeln diese Version und kommen zu dem Schluss: Niemand hatte die ganze Tat gesehen.
Einige Nachbarn beobachteten die Anfänge des Übergriffs, interpretierten sie jedoch als Beziehungsstreit; andere wollen gar nichts gehört haben. Auch die Polizei sei gerufen worden, aber zu spät eingetroffen. Nach dem Mord wurde der Fall Genovese zu einer Parabel auf die Gefühlskälte und Apathie gegenüber in Not geratener Menschen. Er war Anlass, das Notrufsystem in den USA zu verbessern und die Ursachen es Nicht-Helfens zu erforschen:
"Gründe dafür, dass Leute manchmal nicht helfen, können vielfältig sein. Manchmal nehmen Leute Situationen aufgrund von Zeitdruck nicht wahr, weil sie einen großen Abstand haben, weil Lärm ist, Ablenkung, weil sie einfach auf sich selbst konzentriert sind. Und wenn sie die Situation wahrnehmen, müssen sie sie auch als Notfall interpretieren."
Wird eine Situation als Notfall interpretiert, muss sich jemand verantwortlich fühlen und als Erster beginnen, zu helfen.
Ein weiteres Hindernis kann die Angst sein, die Gewalt auf sich zu ziehen oder das Falsche zu tun. Die Polizei oder den Rettungsdienst rufen kann allerdings jeder.
Es ist ein Fall, bei dem alle Schritte der Hilfeleistung nicht stattfanden: Vor zwei Jahren bricht ein 82-jähriger Mann * in Essen zusammen. Das Überwachungsvideo zeigt, wie vier Personen Geld abheben und dabei über den reglosen Mann steigen oder einen großen Bogen um ihn machen. Dieser stirbt später im Krankenhaus. Es kommt zu einem Prozess wegen unterlassener Hilfeleistung: Ein Angeklagter sagt aus, er habe den Mann für einen Obdachlosen gehalten und nicht bemerkt, dass dieser Hilfe brauchte.
Geldstrafen wegen unterlassener Hilfeleistung
Ein anderer gibt an, durch die Pflege von Verwandten stark belastet zu sein, deshalb habe er die Not des Mannes nicht erkannt. Der Richter will ein Zeichen setzen. Er verurteilt alle Angeklagten zu einer Geldstrafe von rund 3000 Euro. Seine Begründung: Es sei erkennbar gewesen, dass der Mann Hilfe brauchte, da er blutete. An seiner eleganten Kleidung habe man sehen können, dass es kein Obdachloser war und auch einem Obdachlosen hätte man helfen müssen.
Umringen filmende Gaffer ein Verkehrsopfer, ohne zu helfen, stehen sie selten vor Gericht, denn es fehlen Beweise. Dabei wurden die Strafen in letzter Zeit drastisch erhöht: Es drohen Geldbußen und Gefängnisstrafen von bis zu zwei Jahren, wer eine hilflose Person filmt oder fotografiert. Außerdem hat der Bundesrat einen Gesetzesentwurf beschlossen, der diese Persönlichkeitsrechte auch auf Verstorbene ausweitet. Bilder von toten Verkehrsopfern zu machen, ist bisher noch straffrei.
Doch reichen strengere Gesetze aus, um das "Gaffertum" einzudämmen? Heinz Albert Stumpen von der Polizeihochschule Münster:
"Eine Strafandrohung wirkt immer dann, wenn gleichzeitig auch das sogenannte Entdeckungsrisiko wächst. Man müsste eigentlich zu den ganzen Aktivitäten, die die Polizei oder die Rettungsdienste in diesen Bereichen hat, müsste man noch eine Ermittlungsgruppe von Menschen mit an den Tatort, an den Unfallort bringen, die sich ausschließlich damit beschäftigen, die Personalien festzustellen, um eine Bestrafung herbeizuführen oder die einfach da wegzuscheuchen, damit die Rettungswagen frei bleiben und das Aktionsfeld für die Retter. Und dieses Personal haben wir nicht."
Dortmund: Polizei fotografiert und bestraft Gaffer.
Einiges tut sich bereits: Im Oktober fotografierte die Autobahnpolizei Dortmund vier Männer und stellte deren Personalien fest: Sie hatten ein brennendes Auto und Rettungsarbeiten gefilmt. 100 Euro und ein Punkt in Flensburg waren fällig. Ein weiterer Gaffer, der auf der Gegenfahrbahn stark abbremste und dadurch einen Stau verursachte, muss 150 Euro zahlen und den Führerschein für einen Monat abgeben.
"Da werden aber auch im Moment die ersten Piloten gefahren, dass die Streifenwagen mit Dash-Cams ausgerüstet werden, also vorne auf dem Armaturenbrett noch mal eine Kamera ist. Irgendwann kommt wahrscheinlich der Tag, wo man über Videografie dann tatsächlich zumindest versucht muss, die Beweise zu sichern, wer ist das gewesen."
Eine Beweissicherung könnte helfen, das "Gaffertum" und die Behinderung von Rettungsarbeiten einzudämmen. Auch müsste die Forschung zu diesem Thema intensiviert werden, denn noch existieren keine validen Zahlen dazu, ob es sich dabei um Einzelfälle oder ein alltägliches Phänomen handelt.
Fest steht: Mit der Existenz und dem Einsatz von Smartphone und Internet müssen wir leben. Und nicht selten hat das auch Vorteile. So ruft die Polizei bei Gewaltverbrechen, Terrorangriffen oder Raubüberfällen dazu auf, Videos und Fotos davon auf ihr Hinweis-Portal zu stellen, um Beweise zu sichern und auszuwerten.
* In einer früheren Version wurde hier ein falscher Ort genannt.