Rettet den Weihnachtsmann!

Von Reinhard Mohr |
Wahrscheinlich muss man heutzutage Marx heißen, um überhaupt noch den Mut zu revolutionären Veränderungen aufzubringen. Karl Marx ist zwar tot, aber Reinhard Marx lebt.
Der Erzbischof von München und Freising ist vor Jahresfrist, pünktlich zur Weltwirtschaftskrise, mit der Veröffentlichung eines Buches aufgefallen, dessen Titel vielen älteren Mitbrüdern und -schwestern im Geist des Herrn irgendwie bekannt vorkam: "Das Kapital". Natürlich geht es auch darin auch um Freiheit, Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit, aber eben vom Standpunkt der katholischen Soziallehre aus – "Wilde Spekulation ist Sünde!" – und nicht als Kritik der politischen Ökonomie, die der Urvater des "wissenschaftlichen Sozialismus" vielbändig formulierte.

Nun hat der Erzbischof einen weiteren gesellschaftskritischen Coup gelandet: Pünktlich zum höchsten Fest der Christenheit forderte er die Abschaffung des Weihnachtsmanns. Jawohl. "Wir brauchen nicht den bärtigen, alten Mann im roten Filzkostüm, den Weihnachtsmann, den die Industrie erfunden hat", sagte Marx im Rundfunk.

In der kapitalismuskritischen Tradition seines letzten Aufklärungswerks ruft er die irregeleiteten Volksmassen, die ihren Kindern immer noch vom Weihnachtsmann und seinen wunderbaren Gaben im großen Sack erzählen, ultimativ dazu auf, dieses Kunstprodukt des amerikanischen Turbokapitalismus konsequent zu "ignorieren".

Stattdessen solle der heilige Nikolaus wieder mehr zu Ehren kommen, der Anfang des 4. Jahrhunderts in Kleinasien lebte und im Zuge der damaligen Christenverfolgung im Kerker landete. Während Sankt Nikolaus also ein wahrer Christ war, ist der Weihnachtsmann nur eine Geschäftsidee von Coca Cola aus dem Jahre 1931. "Santa Claus" brachte, streng, aber gütig, die Weihnachtsgeschenke ins Haus. So will es die Legende, auch wenn inzwischen bekannt ist, dass schon 1897 Postkarten mit dem Motiv eines bärtigen Weihnachtsmanns verschickt wurden.

Doch solche historiografischen Kleinigkeiten können einen Gesellschaftskritiker nicht beirren. Hier geht es ums Grundsätzliche, und das heißt "Kommerzialisierung" des Weihnachtsfests, Verluderung des Glaubens und Herrschaft des Weltlichen über das Religiöse. Dass Religion "Opium fürs Volk" sei, wie Bruder Karl glaubte, kann Bruder Reinhard nicht irritieren. Denn heute ist Coca Cola die Droge des Irrglaubens.

Wohlan! rufen wir dem tapferen Bischof zu und setzen darauf, dass er seinen Weg auch wirklich konsequent zu Ende geht. Denn es gibt noch viel zu tun. Was ist zum Beispiel mit dem Weihnachtsbaum, diesem albernen, Lametta-beladenen Hausminarett der Christen, an dem unmäßiger Schmuck, Spezereien und neuerdings gar hässliche Lichterketten prangen? Was ist mit jenen Einfamilienhäusern, die zur Adventszeit wie illuminierte Knusperhäuschen aussehen und sinnlos Unmengen klimaschädlichen Stroms verschwenden? Was mit all jenen Weihnachtsmärkten, auf denen sich die Leute nach Feierabend mit billigem Glühwein die Birne zudröhnen, bevor sie dann von der Caritas ins Krankenhaus transportiert werden? Ganz zu schweigen vom sogenannten Weihnachtsgeld, jenem schnöden Mammon, das die Kapitalisten ihren Lohnabhängigen zum heiligen Fest spendieren, damit es anschließend für elektrische Zahnbürsten und lila String-Tangas ausgegeben werden kann – zum Wohle der Konzerne. "Hinfort mit all dem Tand!", möchte man mit Jesus rufen.

Das marxistische Motto bei alldem – "Ubi spiritus domini ibi libertas", zu deutsch: "Wo der Geist des Herrn wirkt, ist die Freiheit", klingt zwar ein bisschen nach Silvio Berlusconi, stammt aber aus den Paulusbriefen an die Korinther.

Doch eine Frage bleibt: Könnte es sein, dass die wahre Freiheit nicht vom Konsumkapitalismus bedroht ist, sondern von der Unfähigkeit der Wohlmeinenden, sie gegen ideologische und religiöse Anfechtungen zu verteidigen? So wird zum Beispiel im norwegischen Staatsfernsehen dieses Jahr erstmals keine christliche Weihnachtsgeschichte mehr gezeigt. Die Begründung: Man müsse "Rücksicht" nehmen auf die multikulturelle Gesellschaft, vor allem auf die Moslems. Die Weihnachtsgeschichte könne den Zuwanderern aus anderen Kulturkreisen im Fernsehen "nicht länger zugemutet" werden. Das ist die Konsequenz der Konsequenz: Die Kapitulation. Die Schokoladenweihnachtsmänner im KaDeWe können dann endgültig eingeschmolzen werden.

Reinhard Mohr, geboren 1955, schreibt für "Spiegel Online". Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "SPIEGEL". Weiter journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Buchveröffentlichungen u. a.: "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z" und "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern".