Mit der Bibel gegen die deutschen Besatzer
Die Nationalsozialisten wollten als Besatzer auch Juden in Dänemark vernichten. Doch im Oktober 1943 rettete die Bevölkerung die meisten von ihnen vor der Deportation – mit tatkräftiger Beteiligung der Lutherischen Staatskirche.
Nein, fromm ist Vilhelm Bergstrøm nicht. Und ein Kirchgänger schon gar nicht. Und doch macht der Kriminalreporter der Zeitung "Politiken" an diesem Sonntag, dem 3. Oktober 1943 eine Ausnahme. Er besucht den Gottesdienst im Kopenhagener Dom. "Es gibt Gerüchte, dass dort an diesem Tag etwas Ungewöhnliches stattfinden soll", notiert er in seiner "Chronik", die er über die Ereignisse der deutschen Besetzung Dänemarks angelegt hat.
Das "Ungewöhnliche" geschieht, als Hans Fuglsang-Damgård, der Bischof von Kopenhagen auf die Kanzel steigt und einen Hirtenbrief verliest, ein von allen dänischen Bischöfen unterzeichnetes Schreiben, das er zuvor an die deutschen Besatzer geschickt hat. Die unerschrockene Deutlichkeit dieses Dokuments lässt nicht nur Vilhelm Bergstrøm aufhorchen:
Die Bischöfe stellen sich offen gegen die Besatzer
"Wo immer Juden aus rassischen oder religiösen Gründen verfolgt werden, ist es die Pflicht der christlichen Kirche, gegen solche Verfolgung zu protestieren: Weil wir nie vergessen dürfen, dass der Herr der Kirche, Jesus Christus, in Bethlehem von der Jungfrau Maria geboren wurde - gemäß der Verheißung Gottes an sein Volk Israel. Und weil die Verfolgung von Juden der Nächstenliebe entgegensteht, die im Evangelium wurzelt, das die Kirche Jesu Christi predigt. Ungeachtet unterschiedlicher religiöser Überzeugungen wollen wir dafür kämpfen, dass unsere jüdischen Brüder und Schwestern die gleiche Freiheit bewahren, die wir höher schätzen als das Leben. Daher bekennen wir uns zu dem Wort, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen."
Es ist ein historischer Moment - das Verlesen dieses Hirtenbriefes, mit dem die dänische Kirche so offen auf Konfrontationskurs zu den deutschen Besatzern geht. Die zurückhaltenden "Zusammenarbeit" zwischen Dänen und Besatzern ist durch Massenstreiks und Sabotageakte immer weiter erodiert. Folglich drängen die Deutschen nun auch in Dänemark auf die sogenannte "Endlösung der Judenfrage".
Ein Schiff für die Deportation war schon unterwegs
Mitte September sickert die Nachricht durch, dass die Deportation der dänischen Juden in der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober 1943 erfolgen soll.
Arne Melchior: "Man hat von Deutschland ein Schiff nach Kopenhagen geschickt und auf diesem großen Frachtschiff sollten dann die gefangenen dänischen Juden deportiert werden. Da gab es nur 48 Stunden, bis die Aktion losgehen sollte."
Die "Aktion" von der Arne Melchior, damals 17 Jahre alt und Sohn des Kopenhagener Oberrabbiners berichtet - das ist die Rettung der dänischen Juden. Am 29. September erreicht Oberrabbiner Marcus Melchior die geheime Warnung vor der bestehenden Deportation. Er gibt sie sofort weiter.
Arne Melchior: "Am nächsten Tag sollte das jüdische Neujahrsfest gefeiert werden. An dem Morgen waren ungefähr 250 Menschen in der Synagoge, und da gab es einen Frühgottesdienst, und als er schon fast beim Abschluss war, ging mein Vater hinauf und hat also die Mitteilung gegeben und hat allen Anwesenden aufgelegt, dass sie schnellstmöglich ihre Familie, ihre Freunde, Bekannten benachrichtigen sollen, dass man in der kommenden Nacht und auch weiter danach nicht zu Hause sein durfte. So kam es zu meinem Vater, und so hat er es weitergegeben."
Juden finden in Pfarrhäusern Unterschlupf
Arne Melchior gehört zu denen, die die Flucht der Juden auf Fischerbooten über den Øresund ins freie und neutrale Schweden mitorganisiert haben. Bis er sich selbst und seine Familie dorthin retten kann, wird er im Haus eines Landpfarrers versteckt.
Für die bedrängten dänischen Juden werden ihre christlichen Landsleute zum Rettungsanker bei der Flucht vor den deutschen Verfolgern. Ein ganzes Volk beteiligt sich in Hilfsbereitschaft und Solidarität an dieser Rettungsaktion: bei Nacht und Nebel bringen dänische Fischerboote rund 7500 jüdische Flüchtlinge außer Landes.
Die Torahrollen aus der Synagoge werden im Kopenhagener Dom versteckt. Pfarrhäuser öffnen ihre Türen, um Menschen vor ihrer Flucht zu beherbergen. Das erlebt auch die Familie von Oberrabbiner Melchior.
Arne Melchior: "Wir waren sechs Menschen. Mein älterer Bruder war schon 14 Tage früher auf eigene Initiative nach Schweden gegangen, aber hier gab es Vater, Mutter und vier Kinder, da kann man nicht zu jedem Haus, jeder Wohnung kommen und erwarten, dort untergebracht zu werden. Aber dieser Priester auf dem Lande hatte einen großen Priesterhof, ein großes Haus, und so sind wir da also plötzlich mit sechs Menschen angekommen, und der hat uns also mit offenen Armen aufgenommen und die Familie war dort neun Tage untergebracht."
Ein Pfarrer widerspricht der Irrlehre vom "Herrenvolk"
Zwei Monate nach Verlesung des Hirtenbriefs des Bischofs von Kopenhagen besteigt der Pfarrer und Schriftsteller Kaj Munk die Kanzel im Kopenhagener Dom. Damit stellt er sich gegen ein Verbot der Deutschen, denen er bereits mehrfach durch unliebsames Verhalten und mutige Worte aufgefallen ist. So hatte er zum Rassenwahn der Nationalsozialisten geschrieben:
"Als Gott seinen Sohn geboren werden ließ, konnte er dafür kein Herrenvolk mit einer Neigung zum Größenwahn gebrauchen."
Dass er sich nun mit seiner Predigt im Dom in tödliche Gefahr begibt, scheint ihn nicht zu kümmern:
"Wenn man hier eine Gruppe unserer Landsleute wegen ihrer Abstammung verfolgt, dann ist es die Pflicht der Kirche zu sagen: Das ist gegen das Gesetz im Reich Christi. Geschieht das doch, wollen wir mit Gottes Hilfe versuchen, das Volk zum Aufruhr zu bringen."
Aufruf zum Widerstand von der Kanzel
Ein denkwürdiges Ereignis. Ein lutherischer Geistlicher droht der Obrigkeit mit Aufruhr. Was seinen Vater zu dieser Haltung bewogen hat, darüber sprach Munks Sohn Arne 2006 in einem Vortrag:
"Kaj Munk wendet sich vor allem gegen die Tendenz, die Forderung der Bergpredigt als utopisch anzusehen. Für Munk gelten die Worte in einem unmittelbaren Sinn. Jesu Worte wollen nicht weniger als Gottes Rechtsordnung verkünden und zum Kampf für das Reich der Liebe auf dieser Welt des Hasses rufen."
Einen Monat nach dieser Predigt, am 5. Januar 1944 findet man in einem Wald bei Silkeborg Munks Leiche. Am Abend zuvor ist er von einem SS-Kommando in seinem Pfarrhaus verhaftet, in einen Wagen gestoßen und erschossen worden. Auf persönlichen Befehl von Heinrich Himmler.
Adolf Eichmann konnte diese Rettung nicht vergessen
In diesen Herbsttagen des Jahres 1943 erleben in Dänemark 7500 Juden, unter ihnen 1500 Flüchtlinge aus Deutschland, ihre Rettung. 400 von ihnen schaffen die Flucht nicht, sie werden nach Theresienstadt deportiert, 50 von ihnen finden den Tod. Man hat die Rettung der dänischen Juden als "das kleine Licht in der großen Finsternis der Schoah" bezeichnet.
Für Adolf Eichmann war diese Tatsache noch bei seinem Kriegsverbrecherprozess in Jerusalem 1960 ganz offenbar ein unvergessenes Ärgernis. Freimütig gab er damals zu Protokoll: "Dänemark hat uns mehr Schwierigkeiten bereitet als jedes andere Land."