Der Kampf gegen den Tintenfraß
Historische Schriften vor dem Zerfall zu retten ist zeitaufwendig und teuer. Bei neun Millionen mittel bis schwer beschädigten Papierdokumenten in öffentlichen Bibliotheken wird schnell klar: Es geht darum, Prioritäten zu setzen. Doch nicht einmal dafür reicht derzeit das Geld.
Der preußische Architekt und Baubeamte Hermann Muthesius, Gründungsvater des Deutschen Werkbundes, war sich seiner künftigen kulturhistorischen Bedeutung durchaus bewusst. Bei seiner umfangreichen Korrespondenz, die er mit Kollegen, Persönlichkeiten aus Politik und Kultur führte, heftete er auch Kopien seiner eigenen Briefe ab, dazu drückte er den mit Tinte geschriebenen Brief noch einmal auf dünnem Matritzenpapier ab, später ließ er die Blätter zusammenbinden. Ein Schatz für heutige Wissenschaftler. Doch Muthesius' "Letterbook" drohte noch vor kurzem buchstäblich zu zerbröseln. Die verwendete Eisen-Gallus-Tinte durchlöcherte das Papier: Tintenfraß.
"Tintenfraß bedeutet für eine Seite oder ein Blatt Papier, dass bestimmte Buchstaben oder Teile von Wörtern quasi richtig rausfallen und der Restaurator hat dann die Puzzleaufgabe, mit einer Pinzette jeweils dann zu gucken ob ein Puzzleteil was da im Knickfalz gelandet ist, in irgendein Löchlein in der Seite wieder reinpasst, und dann wird alles zusammen stabilisiert."
Archivarin Rita Wolters hat weiße Handschuhe übergezogen, um die jetzt sorgsam restaurierten Seiten zu präsentieren. Das "Letterbook" aus dem Nachlass von Muthesius, entstanden zwischen 1896 und 1903, befindet sich im Bestand des Deutschen Werkbundarchivs in Berlin-Kreuzberg. Bei der Restaurierung im vergangenen Jahr musste das brüchige Papier auch aufwändig in einem chemischen Bad entsäuert werden. Vier Monate dauerte die Prozedur, Kosten: 16.000 Euro. Bereitgestellt wurden die Mittel von der KEK, der "Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts". Ihr Mandat läuft nun nach fünf Jahren aus. Auf der Kultusministerkonferenz präsentiert die KEK nun ihren Bericht. Danach sind allein in den öffentlichen Bibliotheken geschätzte 9 Millionen Bände mittel bis schwer sauregeschädigt. Betroffen sind außerdem bundesweit 1,9 Millionen Regalmeter Akten – das ist die Hälfte aller Archivbestände. Es sei schon jetzt klar, dass vor allem kleinere Archive und Bibliotheken mit dem Problem komplett überfordert seien, erklärt die Präsidentin Kultusministerkonferenz, Brunhild Kurth:
Unwiederbringlicher Verlust von Kulturgut
"Jetzt gilt es gemeinsam mit dem Bund zu handeln, ohne abgestimmtes Vorgehen wird es zu einem unwiederbringlichem Verlust von Kulturgut kommen. Und hier heißt es, dass Bund, Länder und Kommunen ihre Kräfte bündeln müssen, um die wertvollen Bestände zu erhalten."
Papier ist geduldig, heißt es. Doch leider ist das Gegenteil der Fall. Mehr als die Katastrophen wie der Brand der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar oder der Einsturz des Kölner Stadtarchivs bedrohen still und heimlich Säure, Tintenfraß und Schimmel die Dokumente. Und interessanterweise sind es nicht die ganz alten Manuskripte, die vom Zerfall bedroht sind, sondern die Schriftstücke, die nach 1850 beschrieben oder bedruckt wurden. Denn mit der Industrialisierung wurde Papier als Massenware hergestellt und mit säurehaltigen Substanzen versehen, die nun das Papier langsam zersetzen. Man dürfe sich nicht der Illusion hingeben, alles retten zu können, sagt Michael Hollmann, Präsident des Deutschen Bundesarchivs. Aber eine Auswahl zu treffen, sei schwer.
"Es geht gerade im Archiv immer um Kontexte: Wie ist das Dokument entstanden? Da können Sie eigentlich erst durch den Nachvollzug der innerbehördlichen oder auch der gesellschaftlichen Diskussion aus den Akten heraus feststellen, warum dieses eine Dokument am Ende genauso ist, wie es ist."
Langfristig, sagt Hollmann, wird man nicht darum herumkommen, Prioritäten zu setzen. Welche Originale will man erhalten? Und wo genügt es, die Information zu retten, etwa durch Digitalisierung? Ziel der Politik müsse es sein, dafür zu sorgen, dass jährlich wenigstens ein Prozent der geschädigten Bestände gesichert würden, fordert die KEK. Dafür müssten Bund und Länder pro Jahr 63,2 Millionen Euro in die Hand nehmen. Derzeit wenden sie, trotz mancher Anstrengung, gerade mal ein Sechstel dieser Summe auf. Alarmismus läge ihm fern, sagt Hollmann. Aber:
"Wir wollen schon klar machen, es ist Gefahr im Verzug. Wenn wir jetzt nicht anfangen, nachhaltig und auf etwas breiterer Basis dieses Problem anzugehen, werden wir unglaubliche Mengen an Wissen unkontrolliert verlieren. Und das wäre glaube ich das allerschlimmste, was uns passieren könnte."