"Wir nehmen uns die Freiheit, genau das gleiche zu machen, was bisher den Jungs vorbehalten war."
Ravensburger Rutenfest
Probe der Turmfalken für das Trommlerfest. "Wir nehmen uns die Freiheit, genau das gleiche zu machen, was bisher den Jungs vorbehalten war. Und noch mehr." © Deutschlandradio / Michael Frantzen
Revolution - erstmals trommeln Mädchen mit
09:08 Minuten
Die Geschichte des Ravensburger Rutenfest ist 380 Jahre lang. Bisher haben noch nie Mädchen bei dem Fest mitgetrommelt. Das ändert sich nun: Schülerinnen haben eine Mädchen-Trommelgruppe in der Stadt der Türme gegründet und spielen diesmal mit.
„Ravensburger Heimatlied. Vorwärts! Marsch“, ruft Amy Grubert bei 35 Grad im Schatten.
„Wir bitten nicht darum, wir machen's einfach“, sagt Renée Müller. Die feministische Revolution im Oberschwäbischen ist in vollem Gange. Amy Grubert schaut irritiert hoch. Das mit der Revolution ist der Gymnasiastin aus Ravensburg, der gut eine halbe Autostunde vom Bodensee entfernten 50.000-Einwohnerstadt, etwas dick aufgetragen. Einerseits. Andererseits sind ihre „Turmfalken“ ein Novum. Es ist die erste Mädchen-Trommlergruppe in der 380-jährigen Geschichte des Ravensburger Rutenfests.
„Turmfalken - das symbolisiert zwei Sachen, die uns sehr wichtig sind: Das ist einmal das mit den Türmen. Wir kommen aus der Stadt der Türme", erklärt die 17-Jährige. "Und der Falke als Vogel - dies ist die Freiheit, die wir uns nehmen. Deswegen fanden wir das sehr passend. Wir nehmen uns die Freiheit, genau das gleiche zu machen, was bisher den Jungs vorbehalten war. Und noch mehr.“
„Zum Beispiel: diese militaristische Struktur - das haben wir nicht“, ergänzt ihre Mitstreiterin Müller. „Wir haben einen Vorstand und nicht nur Obere, die sozusagen befehlen. Auch die Freiheit, demokratisch innerhalb der Gruppe zu entscheiden, also welche Lieder wir nehmen, welche wir umschreiben. Bis hin zur Kostümwahl.“
Basisdemokratisch und divers
Basisdemokratisch, offen nicht nur für Mädchen, sondern auch für Transgender und Diverse: Die Turmfalken machen einiges anders. Ein bisschen ist das auch aus der Not geboren. Denn Mitmachen bei den traditionellen Trommler-Gruppen – den "Landsknechten" und dem "Trommler-Korps" – dürfen Mädchen weiterhin nicht.
Turmfalke Angelina Scheidler verzieht das Gesicht. Verstehen kann sie das nicht. „Ravensburg ist da eben noch sehr zurückgeblieben in seiner Denkweise", sagt die 16-Jährige. "Und da einfach was zu verändern: Das war eigentlich für mich der hauptauschlaggebende Grund, bei dieser Trommlergruppe mitzumachen. Eben dieses alte System ein bisschen auf den Kopf zu stellen und in die Moderne zu bringen.“
Eigentlich hätte sie einen Shitstorm erwartet von selbsternannten Traditionalisten und ein paar Jungs von ihrem Gymnasium, sagt die Trommlerin. Doch der sei ausgeblieben – glücklicherweise.
Eine Geschichte gescheiterter Versuche
Vor ein paar Jahren war das noch anders, wie Katharina Rist nur zu gut weiß. Die Lehrerin betreut die Turmfalken und kann sich noch gut daran erinnern, wie das war, als ein Teenager schon einmal versuchte, eine Trommlergruppe für Mädchen zu gründen und als „Drecksemanze“ beschimpft wurde.
Nicht viel besser erging es vor drei Jahren zwei ehemaligen Trommlern, die die reinen Jungengruppen für Mädchen öffnen wollten. „Die große Angst ist der Verlust der Tradition. Es gibt traditionelle Strukturen und in den Momenten, in welchen die Mädchen partizipieren, ist die Angst, dass diese Traditionen aufbrechen und dass dann quasi alles sukzessive verloren geht", versucht Rist sich an einer Erklärung. "Ich glaube, diese Angst kann man nur mit der Zeit überwinden, in dem man eben langsame Schritte macht und dann alle mitnimmt und niemanden überfordert.“
Gemischte Resonanz in der Bevölkerung
Die Altstadt von Ravensburg gilt als eine der schönsten Baden-Württembergs: Gotik, Renaissance, Barock – alles ist vertreten. Auf dem Marktplatz mit seinen Eiscafés weht ein Hauch von Dolce Vita.
Jetzt also wieder das Rutenfest, endlich, vom 22. bis 26. Juli, nach zwei Jahren Corona-bedingter Abstinenz. Kaum ein Gebäude, das nicht festlich geschmückt ist. Tradition wird in der ehemaligen Reichsstadt großgeschrieben – neuerdings auch von jungen Frauen.
Nicht jeder kommt damit klar. „Na ja. Ich find nicht, dass unbedingt alle Frauen überall mit drin sein müssen", sagt eine ältere Frau.
Eine jüngere Frau sagt dagegen: "Auf jeden Fall sollte eigentlich jede Frau das gleiche Recht haben wie ein Junge. Find’s einfach gut, dass die gleichgestellt sind."
"Wie kann man es diplomatisch ausdrücken", sucht ein Mann nach einer Formulierung: "Es ist im Leben immer so: Man kann nicht alles haben."
Nachholbedarf beim Thema Gleichstellung
Das Leben also kein Wunschkonzert für Frauen? Damit sollte man Eva-Maria Komprecht besser nicht kommen. Die Mittfünfzigerin ist Gleichstellungsbeauftragte der Stadt. Ihre These: Je mehr sich die Gesellschaft öffnet und verändert, desto verbissener halten viele, die das überfordert, am Althergebrachten fest, an der Tradition.
Auch beim Rutenfest? Ja, meint Komprecht, besonders beim Rutenfest. „Ich kenne viele Leute, die eigentlich sehr offen sind, die dann aber trotzdem sich nicht dafür eingesetzt haben, dass es sich verändert, auch Frauen", sagt Komprecht. "Hier in Ravensburg, kennt man nichts anderes, als dass die Jungs trommeln. Und das geht ins Blut über. Da hieß es dann: Ja, die Belastung von den Jungs; ob die Mädchen das überhaupt können? Da war man schon sprachlos angesichts mancher Argumente.“
Komprecht ist seit fünf Jahren Gleichstellungsbeauftragte. Und vorher? Sie zuckt mit den Schultern. Vorher gab es ihre Stelle nicht. Es gebe da in Ravensburg noch einen gewissen Nachholbedarf, meint sie diplomatisch.
Umso begeisterter ist die Gleichstellungsbeauftragte von den Turmfalken, dass also Amy, Renée und Co. so selbstgewusst sind. Selbstbewusst und clever. „Sie haben’s sehr klug gemacht. Sie waren bei mir, das war ja relativ einfach. Aber sie waren beim Oberbürgermeister, beim Vorsitzenden von der Rutenfest-Kommission. Bei ganz vielen Leuten, die hier maßgeblich sind beim Rutenfest. Und deren Unterstützung haben sie sich geholt, bevor sie dann an die Öffentlichkeit sind.“
Trommler helfen und wollen unter sich bleiben
Von den Revolutionären zu den Traditionalisten. Das „Trommler-Korps“ ist eine der ältesten Trommlergruppen von Ravensburg, Korbinian Muschel ist ihr Chef, sprich: ihr „Ruten-Hauptmann.“
„Wir haben recht traditionelle Musikstücke. Die nennt man bei uns Zapfenstreiche“, sagt Muschel. Militärisch angehaucht sind nicht nur die Lieder, sondern auch die Begriffe: Es wimmelt von Hauptmännern, Ober-Chargen, Adjutanten. „Wir sind eine reine Jungs-Trommlergruppe im Trommler-Korps, und wir würden das auch gerne bleiben", sagt er, macht aber zugleich klar, dass er nichts gegen die Turmfalken hat. "Das heißt aber nicht, dass wir jemand anderen diskriminieren. Wir wollen, dass jeder seinen Platz am Rutenfest hat und deshalb finden wir das gelungen mit der Mädchen-Trommlergruppe. Wir sind da richtig happy drüber und freuen uns drauf.“
„Das ist natürlich gut für uns: Dass wir jetzt nicht mehr so viel Druck von der Öffentlichkeit abbekommen, was dieses Thema Gleichberechtigung angeht."
Ein paar Mal hat sich der 18-Jährige mit Amy und Renée getroffen, Tipps gegeben. Alles ganz easy, meint der Abiturient am Rande einer Wiese, auf der er und die anderen 29 Jungs proben.
„Das ist natürlich gut für uns, im Trommler-Korps", fügt er hinzu. "Dass wir also jetzt nicht mehr so viel Druck von der Öffentlichkeit abbekommen, was dieses Thema Gleichberechtigung angeht. Ich bin eben damit groß geworden im Trommler-Korps, dass es immer wieder Sticheleien gab, dass immer wieder Leute versucht haben, die Mädchen auch im Trommler-Korps einzuführen.“
Mädchen und Jungen: Wenn es nach Korbinian geht, sollten sie weiter ihr eigenes Ding machen – getrennt voneinander.
"Wird schon noch"
Es ist spät geworden, Renée und die anderen Turmfalken sind weiter beim Proben, trotz Hitze. Schließlich wollen sie sich beim Rutenfest keine Blöße geben, wollen es der Rutenfest-Kommission zeigen, die sich weiter weigert, Mädchen in die traditionellen Trommler-Gruppen zu lassen.
Wird schon noch, sinniert Renée. Die Kommission sei zwar stockkonservativ, aber lernfähig, auch musikalisch. „Ich glaube, dieses Jahr wird eine Strophe rausgestrichen aus einem Lied, weil es eben ein bisschen zu nationalsozialistisch anmutend ist, was ja auch ein Ding ist, dass das in 2022 passiert. Aber ich mein: Immerhin passiert’s.“