Wut vereint erstmals alle Konfessionen
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Nach fast zwei Wochen Dauerprotest im Libanon, kurz vor dem Staatsbankrott, verkündete Ministerpräsident Hariri den Rücktritt der Regierung. Auch das korrupte Konfessionssystem, das nach dem Bürgerkrieg den Frieden sicherte, soll abgeschafft werden.
"Ich möchte mein Geld von der Regierung. Sie gibt uns gerade nur noch 200 US-Dollar monatlich. Wie soll ich damit leben? Wir sind arm. Die sind die Könige des Geldes. Sie leben in Schlössern und wir sind arm."
Der 24-jährige Polizist Tarek Al-Jawhari bekommt seit zehn Monaten kein volles Gehalt mehr. Der Staat kann es sich nicht mehr leisten, seine Beamten richtig zu bezahlen, denn der Libanon steht kurz vor einem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die Staatsschulden von 86 Milliarden US-Dollar entsprechen 150 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Deshalb protestiert auch die Lehrerin Dania Aleakis:
"Es reicht! Es reicht, dass sie ständig die Steuern anheben und das zu Lasten des Armen Volkes geht. Und es gibt einfach keine Perspektiven. Die nehmen und nehmen und wir sehen nichts davon. Wir zahlen zu viel für Wasser und Strom, viele Männer haben keine Arbeit und um die öffentlichen Schulen kümmern sie sich nicht."
Politiker gehören selbst zur Wirtschaftselite
Zu Hunderttausenden sind die Menschen im Libanon seit zwei Wochen auf den Straßen. Sie protestieren gegen die Unfähigkeit der Regierung, einen Staatsbankrott abzuwehren, und gegen eine Politik, die zulasten der Armen geht – nicht aber in die Taschen der Reichen langt.
Denn die Politiker gehören selbst zur Wirtschaftselite. Sie halten Anteile am Elektrizitätssektor, an Bau- und Ölfirmen, am Kommunikationsnetz. So entstanden horrende Kosten für Strom oder Telefongebühren und zuletzt die Idee, eine Steuer auf die Nutzung des Nachrichten-Dienstes WhatsApp einzuführen. Das war der Tropfen zu viel: Spontan brach Protest los – und dazu kamen alle anderen Unzufriedenen.
"Ich war die ersten zwei Tage mit meinen Kindern hier, da habe ich nicht gearbeitet. In diesem Land gibt es keine Jobs, es ist eine Vetternwirtschaft. Selbst wenn ich bei der Müllabfuhr arbeiten möchte, brauche ich Vitamin B. Hast du keine Kontakte, kontrollieren sie dich. Ich zum Beispiel arbeite von morgens um acht bis abends um acht. Entschuldige den Ausdruck, aber: Wie ein Esel!"
Mohamad Wazny verkauft Eis auf dem Märtyrerplatz in der Innenstadt Beiruts. Um den rot-weißen Eiswagen herum schwingen Menschen die libanesische Flagge.
Aus Ghettoblastern auf Autos dröhnt Musik. Protestierende tanzen mit stampfenden Schritten den traditionellen Dabke. Auf der Straße Richtung Regierungsgebäude gibt es Pommes und Popcorn, auf dem Bürgersteig sitzen Menschen und blubbern Wasserpfeife. Das sieht nach Partystimmung aus, aber es gibt auch Kämpfe um Straßenblockaden auf den Zufahrtsstraßen in die Hauptstadt. Einige Militärs lösen Sitzblockaden mit Schlagstöcken auf.
Während es jetzt Autos, Menschen und sogar Sofas sind, die die Straßen blockieren, waren es zu Beginn brennende Reifen und Müllcontainer. Die Polizei schickte Wasserwerfer und warf Tränengas.
18 Konfessionen haben garantierten Rechte
"Beide meiner Söhne sind hier. Am ersten Tag, als sie Tränengas geworfen haben, war mein Sohn in der ersten Reihe. Ich war weit entfernt, konnte ihn nicht erreichen. Stell dir das vor: Mein Sohn war dort, ich musste in die andere Richtung rennen und das war sein erster Protest. Nachdem es vorbei war, wir ihm Wasser gegeben haben, hat er sofort gefragt: Wann geht es morgen weiter? Ich bin so stolz auf ihn!"
Victoria El-Khoury Zwein und ihre Söhne gehören zu den Demonstranten, die den Libanon von Grund auf ändern wollen. Deshalb hat die 44-Jährige die säkulare Partei Sabaa mitgegründet. Etwas Besonderes im Libanon, wo Alltag und Politik streng nach Konfessionen aufgeteilt sind. Jede Gruppe lebt für sich, hat ihre Vertreter im Parlament – aber auf der Straße sind nun alle vereint:
"Sie sind Lügner. Sie haben uns angelogen und gesagt, dass wir gegeneinander sind. Das ist nicht der Fall. Gestern haben sie von Triopli aus die Menschen im Süden gegrüßt. Das alleine steht stellvertretend für diese Revolution. Es zeigt, dass wir alle vereint sind. Sie haben uns entlang unserer Sects getrennt, jetzt sind wir mit unseren Sects vereint."
Die sogenannten Sects, sind Konfessionszugehörigkeiten: Schiiten, Sunniten, maronitische Christen oder Orthodoxe – um nur einige der 18 anerkannten Religionsgemeinschaften im Libanon zu nennen. Jeder hat garantierte Rechte und politische Vertretungen. Das sicherte den Frieden seit Ende des Bürgerkrieges 1989 bis heute. Und es sicherte die Macht, sagt Politikprofessor Bassel Salloukh von der Libanesisch-Amerikanischen Universität in Beirut.
"Das konfessionsgebundene System ist eines der beständigsten in der arabischen Welt. Weil die damit einhergehende Korruption alles in der Gesellschaft durchdringt. Religiöse Communities haben ihre eigenen zivilen Organisationen, eigene Schulen, ihre eigenen Pfadfinder, eigene Fußball- und Basketballteams. Alles ist entlang der konfessionellen Linien gegliedert."
Die Politiker sind als Schutzpatrone den Menschen ihrer Gemeinschaft verbunden, sie garantieren ihnen Sozialhilfe, den Zugang zu Jobs und Rechten. So konnten sie die arabischen Aufstände 2011 politisch überleben.
"Es gab hier auch Rebellionen gegen das konfessionsgebundene System seit 2011. Das Problem ist, dass nach dem Ende des Bürgerkrieges im Libanon die politische Wirtschaftselite dafür gesorgt hat, jegliche Opposition in der Alltagspolitik zu zerstören - also: Arbeiterbewegungen, Gewerkschaften und so weiter. Und keine Gruppe war bisher in der Lage, sich gegen das politisch-konfessionelle System zu wehren."
Politische Elite hat arme Menschen verdrängt
Aufstände in der Vergangenheit wurden angeführt von einer elitären Zivilgesellschaft und konzentrierten sich auf die Hauptstadt Beirut. Diesmal sind die Proteste breiter und landesweit. Auch dort, wo sie bisher als unmöglich galten, weil die Menschen dort auf ihre Patrone angewiesen waren oder Angst vor Sanktionen hatten. Im Süden denunzierten schiitische Gruppen erstmals öffentlich ihre Anführer. Sogar Hisbollah-Parteichef Hassan Nasrallah. Er galt bisher als "Volksnaher" unter den Korrupten. Aber auch er ist nun gemeint:
"Kullun iani kullun", rufen die Leute, was so viel heißt wie "alle heißt wirklich alle!". Der Spruch wurde zum Slogan für Hashtags in sozialen Medien oder als Graffiti auf Wänden. Er drückt die Wut aus, die alle vereint und das gemeinsame Ziel: die Regierenden zu stürzen, egal aus welcher Fraktion.
Der 26-jährige Mohamad Ali Dabaa klettert mit mir und anderen über eine Absperrung in der Innenstadt. Dahinter wartet ein großes Gebäude ohne Fensterscheiben:
"Manche glauben, dass es ein altes Kino oder Theater ist, die Regierung hat es verwahrlosen lassen. Wenn du reingehst, siehst du dass Boden kaputt ist, die Wände bröckeln, es ist gefährlich, das Gebäude könnte einstürzen. Aber wenn du rein möchtest, helfe ich dir und zeige den Weg. Auf dem Dach feiern sie Partys, spielen Songs, trinken. Das ist die libanesische Art zu feiern. Wir haben Spaß!"
Über eine rostige Leiter geht es im Inneren des Grand Theaters weiter zu bröckelnden Treppen, die aufs Dach führen. Dort steht Jad Sleitaty und schaut hinunter. Soldaten sperren eine Nebenstraße ab.
"Schau, sie haben die ganze Innenstadt nach dem Bürgerkrieg neu aufgebaut. Aber sie haben die echten, historischen Gebäude wie dieses Theater hier vergessen. Die hätten sie einfach restaurieren können."
Die Menschen holen sich ihre öffentlichen Plätze zurück
Das verlassene Theater in der Innenstadt steht symbolisch für den Kampf der Libanesen gegen die Politik, die seit Jahren die wirtschaftliche und politische Elite bevorzugt. Hohe Mieten, Neubauten und überteuerte Cafés haben arme Menschen verdrängt. Die Politik im Libanon ist eine Politik für die Reichen. Von dem korrupten System profitieren Abgeordnete, politische Parteien, Großunternehmer, Bankiers und Bauträger. Nun holen sich die Menschen ihre öffentlichen Plätze zurück. Und sie wollen noch mehr, erzählt Victoria El-Khoury Zwein von der säkularen Partei Sabaa:
"Wir wollen drei Dinge: Erstens, den Rücktritt des Kabinetts und eine technokratische, unabhängige Übergangsregierung. Die müssen schnelle Reformen durchbringen. Zweitens und am wichtigsten: Neuwahlen in maximal sechs Monaten. Und drittens: Das neue Parlament muss ein Gesetz zur Rückgewinnung des abgeschöpften Vermögens erlassen. Denn: Der Libanon ist kein armes Land, es ist ein bestohlenes Land. Und wir werden unser Vermögen zurückholen."
Ein Erfolg: Tripoli grüßt Beirut
Nicht neue Wirtschaftsreformen der Regierung sollen das Land vor dem Staatsbankrott retten, sondern die Rückgabe des Geldes, das Politiker durch Korruption gestohlen haben. Das klingt utopisch, aber ein wenig geht die gewählte Regierung schon auf die Demonstranten zu.
Vergangene Woche hatte Ministerpräsident Hariri schnelle Reformen angekündigt: Ein Verzicht auf neue Steuern und die Privatisierung großer Banken, die Einkünfte von Ministern und Abgeordneten sollen halbiert werden und Internationale Geldgeber elf Milliarden Dollar geben. Die politische Führungsriege spielt auf Zeit und möchte an der Macht bleiben, die sie seit dem Bürgerkrieg fest in den Händen hält. Exakt 30 Jahre nach dessen Ende stellen sich die Menschen nicht mehr gegeneinander, sondern gegen die ehemaligen Milizführer, erklärt Politikwissenschaftler Bassel Salloukh:
"Das Friedensabkommen von Taif im Jahr 1989 war ein von oben auferlegter Frieden ohne jegliche Aussöhnung. Mit der größte Erfolg ist es, dass Tripoli den Süden und Beirut den Norden grüßt, und Christen Muslime umarmen. Damit haben die Menschen beschlossen, dass 2019 das wahre Ende des Bürgerkriegs im kollektiven Gedächtnis ist. Das ist sehr wichtig: Niemand kann ihnen das wegnehmen."
Nach dem Bürgerkrieg bewahrte die Machtteilung entlang der religiösen Gemeinschaften das Land vor einem neuen Bürgerkrieg. Der Präsident im Libanon ist immer ein Christ, der Ministerpräsident Sunnit, der Parlamentssprecher Schiit. Ein stabiles System, so zumindest die gängige Lesart:
"Dieser Idee, das Wahlgesetz garantiere Stabilität, stimme ich nicht zu – schließlich hat es Krisen um Krisen gegeben. Dieses Argument, das bestehende Gesetz sichere Rechte von konfessionellen Minderheiten, ist eine Art Vogelscheuche. Wir können sehr wohl Wahlgesetze ausarbeiten, die sicherstellen, dass alle marginalisierten Gruppen vertreten sind – und das Recht haben zu entscheiden, wie sie vertreten werden möchten."
Victoria El-Khoury Zwein – die Mutter und Gründerin der säkularen Partei Sabaa will durchhalten und ist optimistisch: "Vor drei Jahren, als wir über das Gesetz zur Rückholung des gestohlenen Vermögens geredet haben, da haben mich Freunde, Familie, alle haben sie uns ausgelacht und gesagt, wir seien Träumer. Tja, große Probleme brauchen große Träume. Ja, wir sind Träumer, und wir werden diese Träume verwirklichen."