Bedrohte Sprachen

Ein Atlas gegen das Verschwinden

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Buchcover "Atlas der vom Aussterben bedrohten Sprachen"
© DuMont

Arnfrid Schenk, Stefan Schnell

Atlas der vom Aussterben bedrohten Sprachen.Von Nordfriesland bis nach AmazonienDuMont, Köln 2025

224 Seiten

34,00 Euro

Von Günther Wessel |
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Viele Sprachen sind entstanden und untergegangen. Doch nie war der Verlust so dramatisch wie heutzutage. Fünfzig bedrohte Sprachen stellen der Journalist Arnfrid Schenk und der Linguist Stefan Schnell vor und erläutern die Gründe für deren Sterben.
Von den etwa 7000 Sprachen, die noch auf der Erde gebräuchlich sind, werden Ende des Jahrhunderts zwischen 1500 und 3500 ausgestorben sein. Heute schon werden von den einst 360 in Australien nur noch 40 im Alltag gesprochen, von den ehemals 500 in Nordamerika ist nur eine nicht bedroht: die Apachensprache Navajo.

Vertreibung lässt Sprachen sterben

Das Sprachensterben hat unterschiedliche Gründe: Kolonialismus und Globalisierung, die Entstehung von Nationalstaaten, die oft zur Unterdrückung regionaler Sprachen geführt hat. Am härtesten in Australien und Nordamerika, wo Kinder aus Familien herausgerissen und in Internate verbracht wurden, in denen der Gebrauch ihrer Muttersprache verboten war.
Auch Epidemien, Naturkatastrophen, Umsiedlung, Kriege, Dürren und Hungersnöte – alles, was Menschen vertreibt und vereinzelt und Sprachgemeinschaften auseinanderfallen lässt, führt zum Sprachensterben, wie Arnfrid Schenk und Stefan Schnell in einem der fünf Essays des Bandes darlegen.
Heute spricht die Hälfte der Menschheit nur 24 verschiedene Sprachen – am häufigsten Mandarin, gefolgt von Spanisch und Englisch. Die andere Hälfte teilt sich fast 7000 Sprachen. 

In Deutschland ist Plattdeutsch bedroht

Die Autoren stellen in kurzen Artikeln und ohne sprachwissenschaftlichen Jargon weltweit 50 Sprachen vor, die „bedroht“, „stark bedroht“, „sterbend“ oder „fast ausgestorben“ sind. Bedroht ist in Deutschland das Plattdeutsch, trotz seiner 2,5 Millionen Sprecher. Fast ausgestorben sind die afrikanischen Sprachen wie Dòmpò mit ungefähr sechs Sprechern oder Nyang’i, das angeblich nur noch ein Sprecher beherrscht.
Jede Sprache wird nach einem ähnlichen Raster vorgestellt: Eine Karte zeigt, wo sie beheimatet ist, die Zahl der Sprecher wird erwähnt, ebenso der Grad der Bedrohung. Dann folgt eine Darstellung der jeweiligen, oft faszinierenden Eigenheiten.
Wie dem Zählsystem der Oksapmin in Papua-Neuguinea: Statt von zehn Fingern ein Zehnersystem abzuleiten, zählt man hier vom Daumen (tipin – eins) über den Arm hoch. Kin bedeutet Auge und 13, lum Nase und 14. Kin ten bezeichnet das andere Auge und 15. Das Ganze endet bei tipin ten, was den anderen Daumen benennt und gleichzeitig für 27 steht. Ein Zahlensystem, das auf der 27 beruht. 

Mit der Sprache geht Wissen verloren

Mit jeder untergegangenen Sprache geht Wissen verloren. Kenntnisse zu bestimmten Heilpflanzen sind oft nur in indigenen Sprachen vorhanden. Zudem eine besondere Denkweise: Das Kayardild in Australien kennt keine Bezeichnungen für vorn, hinten, links oder rechts. Stattdessen rückt man beispielsweise nach Osten oder Norden – die Perspektive des sprechenden Ichs ist somit unwichtig.
Dass die Autoren Sprache und Weltsicht verknüpfen, macht aus ihrem Atlas mehr als eine bloße Dokumentation von Verlusten. Er wird auch zu einem Appell, die Verschiedenheit von Kulturen wertzuschätzen.
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