Eva Illouz: „Explosive Moderne“

Ein Bild der Gegenwart in düstersten Farben

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Zu sehen ist das Buchcover von "Explosive Moderne" von Eva Illouz. Buchtitel und Autorinnenname erscheinen vor orangenem Hintergrund.
© Suhrkamp Verlag

Eva Illouz

Übersetzt von Michael Adrian

Explosive Moderne. Eine scharfsinnige Analyse unserer emotionsgeladenen GegenwartSuhrkamp, Berlin 2024

447 Seiten

32,00 Euro

Von Jens Balzer |
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Die Moderne startet laut der Soziologin Eva Illouz mit einem Gefühl der Hoffnung auf ein besseres Leben. Heute wird oft ein anderes Gefühl in der Politik instrumentalisiert: das der Nostalgie, indem man ein vermeintlich besseres Früher zurücksehnt.
Gefühle haben in der Politik nichts zu suchen und in der Wissenschaft ebenso wenig, so lautet eine weithin verbreitete Ansicht. Denn die Gefühle der Menschen seien ausschließlich ihre Privatangelegenheit. Aber stimmt das überhaupt? Die israelische Soziologin Eva Illouz arbeitet schon seit längerem am Gegenbeweis. Sie forscht über Gefühle in politischer, gesellschaftlicher, historischer Hinsicht.
Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde sie mit dem Buch „Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Gefühle“, darin betrachtete sie die romantische Liebe als gesellschaftliches Konstrukt. Für Illouz sind Gefühle ebenso privat wie politisch, „sie stehen an der Schwelle zwischen innerem und äußerem Selbst“: So schreibt sie es in ihrem neuen Buch „Explosive Moderne“, in dem sie in bisher umfassendster Weise ihre soziologische Theorie der Gefühle darlegt – und auf dieser Grundlage zugleich eine Diagnose unserer zerrissenen Gesellschaft versucht.

Aus Hoffnung wird Neid

In drei Abschnitten fächert sie eine Enzyklopädie des menschlichen Gefühlslebens auf. Es beginnt mit Hoffnung, Enttäuschung und Neid; dann folgen Zorn, Furcht und Nostalgie; am Ende stehen Scham, Eifersucht und – wieder – Liebe.
Mit dem Gefühl der Hoffnung, so Illouz, beginnt das Zeitalter der Moderne, das dem Buch seinen Titel gibt. Denn in der Moderne sind die Menschen nicht mehr zwangsläufig ein Leben lang in ständische oder autoritäre Gesellschaftssysteme gefügt, sondern können darauf hoffen, sich aus den Fesseln der Tradition zu befreien und ihre gesellschaftliche Position zu verbessern. Dieses Gefühl der Hoffnung sei prägend für das Vertrauen in die liberale Demokratie und darum auch für ihren Erfolg.
Leider nur sei die liberale Demokratie eben auch mit der kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft verbunden, und in dieser schlage die Hoffnung auf Aufstieg immer wieder in Enttäuschung um – was der entwickelte Konsumkapitalismus sich wiederum zunutze mache, indem er das Gefühl, „noch nicht alles zu haben, was einem zusteht“, in Neid und in den Wunsch zum endlosen Konsumieren verwandle.

Überforderung, Frust und Zorn

Und das ist für Illouz nur eine von vielen Hoffnungen, die der Liberalismus enttäuscht hat. Auch habe er – wie sie im zweiten Abschnitt schreibt – den Menschen ein Leben ohne Furcht vor Diskriminierung und Ungerechtigkeit versprochen; doch werde die Furcht von links wie von rechts heute wieder verstärkt als politisches Mittel eingesetzt, sei es die Furcht vor der Erderwärmung oder die Furcht vor Migranten. Das führe zu dem verbreiteten Wunsch, in eine schönere Vergangenheit zurückzukehren: Dieses Gefühl der Nostalgie bewirtschafte besonders die politische Rechte erfolgreich.
So malt Illouz die Gegenwart in den düstersten Farben, und wer glaubt, dass uns wenigstens die Liebe aus der Finsternis des Spätkapitalismus zu erretten vermag, der wird im dritten Abschnitt eines Besseren belehrt. Darin zeigt sie, wie das Gefühl der romantischen Liebe, das einst zum Widerstand gegen – wiederum – die ständische, autoritäre Gesellschaft diente, im Kapitalismus der Dating-Plattformen zu einem unerreichbaren und darum unablässig Überforderung, Frust und Zorn produzierenden Ideal geworden ist.

Suggestive Darstellung

So düster die Stimmung des Buches ist, so liest man es doch gerne und in einem Rutsch. Eva Illouz ist eine glänzende Autorin, und sie illustriert ihre Thesen vor allem mit suggestiven Beispielen aus der Literatur, von Kleists „Michael Kohlhaas“ über Henry James bis zu Marcel Proust. Alles, was einst Freiheit versprach, schlägt um in neuen Zwang: Ihr Begriff der Moderne ist wiederum unübersehbar von der „Dialektik der Aufklärung“ geprägt.
Nach einer Weile beginnt man sich freilich bei der Lektüre zu fragen, ob das narrative Schema, das sie bei Adorno und Horkheimer entleiht, der Komplexität unserer Gegenwart wirklich gerecht werden kann.
Oder ob man das bei Eva Illouz Gelernte nicht auf sie selber anwenden sollte: So wie sie uns mahnt, der vermeintlichen Authentizität unserer Gefühle mit Misstrauen zu begegnen, so sollte man beim Lesen nie aufhören, der emotionalen Intensität und der Suggestivkraft ihrer Texte zu misstrauen.
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