Sachbuch „Schlägereien in Parlamenten“
© Katapult-Verlag
Oppositionelle Ohrfeigen und parlamentarische Faustkämpfe
06:18 Minuten
Benjamin Fredrich
Schlägereien in ParlamentenKatapult-Verlag, Greifswald 2024205 Seiten
22,00 Euro
Im Parlament sollte das besser Argumente gewinnen – und nicht die Faust. Wann, warum und wie sich Volksvertreter trotzdem geprügelt haben, hat Benjamin Fredrich zusammengetragen. Ein Buch voller politischer Anekdoten.
Faustkämpfe, Fußtritte, Ellbogencheck, Würfe mit Stühlen, Mikrofonständern, manchmal sogar mit Kot. Eher aus der Mode gekommen sind: Spucken, Ohrfeigen, Würgen. Dieses Buch ist keins für zarte Gemüter, denn die politische Gewalt in Parlamenten eskaliert mitunter schnell – bis hin zur Schießerei (wie in Zagreb 1928).
Der Politikwissenschaftler und „Katapult“-Herausgeber Benjamin Fredrich untersucht insgesamt 97 gewalttätige Auseinandersetzungen in Parlamenten und erforscht anekdotisch, wann, wie und warum die Gewalt ausbricht. Und wie man sie eindämmen kann: In der südkoreanischen Nationalversammlung sei es derart häufig zu Faustkämpfen gekommen, dass die Sitzungssäle mit teuren antiken Vasen dekoriert wurden. Wer eine zerbricht, muss sie bezahlen.
Parlamentsschlägereien müssen sich „lohnen“
Fredrichs verblüffend optimistische These: Schlägereien in Parlamenten seien kein sicheres Zeichen dafür, dass eine Demokratie in Gefahr sei. Denn, so sein Argument: Geprügelt wird sich nur in Parlamenten, die tatsächlich politische Entscheidungsmacht haben. In Scheinparlamenten wie dem chinesischen werde ohnehin nur abgenickt – da lohne sich kein Streit und keine Schlägerei.
Sein zweites Argument: Parlamentsschlägereien seien ein Zeichen für Rechtsstaatlichkeit. Denn wer befürchten müsse, nach einer Ohrfeige von der exekutiven Macht getötet zu werden oder zu verschwinden, mime lieber den braven Untertan.
Schlägereien in Parlamenten seien nur selten persönlich motiviert, meist gehe es um politischen Streit, schreibt Fredrich, und der konkrete Auslöser könne klein sein: eine zornige Geste, Spritzer aus dem Wasserglas oder ein Wurf mit der Wasserflasche – was eben zur Hand ist. Eierwürfe gegen Redner würden dagegen eher hingenommen, und im Schutz eines Regenschirms die Rede weiter gehalten.
Wer den politischen Gegner vom Pult vertreiben will, greife daher zu rabiateren Methoden: Rauchgranaten oder sogar Tränengas. Im kosovarischen Parlament etwa sei Tränengas mittlerweile „zum festen Bestandteil der parlamentarischen Arbeit geworden“. Das Sicherheitspersonal sei deshalb bereits mit Gasmasken ausgestattet worden.
Geprügelt wird vor allem in jungen Demokratien
Im heutigen Bundestag mag dergleichen kaum denkbar erscheinen. Aber historisch war auch der deutsche Parlamentarismus nicht frei von Gewalt. Nicht nur verfolgten, schlugen und erschlugen die erstarkenden Nationalsozialisten ihre Gegner – auf den Straßen und sogar in der Wandelhalle des Parlaments. Auch aus der Weimarer Republik schildert Fredrich eine brutale Schlägerei im Deutschen Reichstag: Ein Sozialist war 1921 ermordet worden, der Mord nie restlos aufgeklärt, und im Parlament brach darüber eine Schlägerei zwischen Sozialisten und Kommunisten einerseits und Abgeordneten der Deutschen Volkspartei andererseits aus.
In der jungen Bundesrepublik kam es nur noch vereinzelt zu Parlamentsschlägereien. Etwa als 1950 ein ehemaliger NSDAP-Abgeordneter (nun: Deutsche Partei) nach ständigen Störungen erst von einer Sitzung ausgeschlossen wurde, dann trotzdem zurückkehrte und schließlich von zwei SPD-Abgeordneten durch eine Glasscheibe buchstäblich hinausgeworfen wurde.
Solche Anekdoten machen den Großteil des Buches aus. Die Sammlung reicht quer durch Zeit, Weltregionen und Kulturen. Zwar gebe es geringfügig mehr parlamentarische Schlägereien in ethnisch oder religiös gespaltenen Staaten und Gesellschaften – die Unterschiede seien aber statistisch kaum signifikant. Eindeutiger sei dagegen, dass Gewalt vor allem in den Parlamenten junger Demokratien vorkomme: In den ersten Jahren einer Demokratie betrage die statistische Gefahr einer Parlamentsprügelei sagenhafte 90 Prozent, sinke dann rapide ab, bis sie nach 75 demokratischen Jahren bei 2,5 Prozent liege. Egal, wie viel Vertrauen man in die Nachkommastellen solcher Statistiken stecken will, ist diese Tendenz wenig überraschend.
Ein faires Wahlsystem als Versicherung gegen Gewalt
Einer jungen Demokratie, so beschreibt Fredrich eine mögliche Erklärung, fehlten die ausgehandelten Routinen. Alles scheine noch veränderbar. Und: Die ersten demokratischen Kräfte legten ja selbst oft die Wahlmodalitäten fest. Eine unverhältnismäßige Machtverteilung könne dabei zu Gewaltausbrüchen im Parlament führen. Wenn ein Wahlsystem dagegen die faire Verteilung von Sitzen garantiere, komme es zu weniger Schlägereien. Auch hier bleibt Fredrich Optimist: Politische Akteure seien grundsätzlich an Fairness interessiert, und ein Parlament, das die Wähler nicht korrekt repräsentiere, stelle eine Absage an die Fairness von Wahlen dar. Und wer sich unfair behandelt fühle, habe auch kein Problem damit, die Regeln derer, die unfair handeln, zu brechen – und eine Schlägerei im Parlament zu beginnen.
Solche Beobachtungen und – teils widersprüchliche – Vermutungen beschreibt und zitiert Fredrich in der Einleitung, die gerade einmal 13 Seiten umfasst. Danach folgt auf 172 Seiten – wie im Katapult-Verlag üblich – im klaren Layout und mit knalligen Grafiken versehen die Sammlung von 97 einzelnen „Schlägereien in Parlamenten“. Diese Anekdoten bilden das Herzstück des Buchs.
Kann das überzeugen? Wer eine tiefgehende, wissenschaftlich fundierte Analyse von parlamentarischer Gewalt sucht, wird das Buch enttäuscht beiseitelegen. Wer es aber dezent auf dem Wohnzimmertisch platzieren will, um muntere Gespräche anzuregen, ist mit dem Band bestens bedient.