Clemens J. Setz

Rettungsprojekt für Twittergedichte

06:23 Minuten
Buchcover von Clemens J. Setz: „Das All im eigenen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie“
© Suhrkamp Verlag

Setz, Clemens J.

Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der TwitterpoesieSuhrkamp Verlag, Berlin 2024

192 Seiten

23,00 Euro

Von Meike Feßmann |
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Clemens J. Setz war Twitter-Fan und wollte seine Gedichte nur noch dort veröffentlichen - bis Elon Musk Twitter zu X ummodelte. „Das All im eignen Fell“ dokumentiert eine Auswahl eigener Twittergedichte, erläutert Stilmittel und feiert Accounts.
Ein Trauergesang auf das Ende der Twitterpoesie, so ganz ohne Komik ist das nicht. Clemens J. Setz scheint das zu wissen. Vor ein paar Jahren habe er noch „herumgekräht“, seine Gedichte nicht mehr in Buchform veröffentlichen zu wollen, nun muss er sich revidieren. Zumindest was das „Langlebigkeitsversprechen“ betrifft, habe das gedruckte Buch gesiegt.
Seit Elon Musk Twitter übernommen hat und zu X umwandelte, ist nicht nur die Zeichenbeschränkung aufgehoben. Inaktive Accounts werden nach einer gewissen Zeit automatisch gelöscht. Wer hoffte, das schnelle Medium spontaner oder sich spontan gebender Einfälle könnte zugleich ein gigantisches Archiv sein, hat sich getäuscht.
Clemens J. Setz begibt sich mit einer Auswahl seiner auf Twitter publizierten Gedichte zurück in die Schutzzone des Urheberrechts, unter die Fittiche des Suhrkamp Verlags, bei dem das preisgekrönte Werk des Österreichers seit vielen Jahren erscheint.

Anklänge an Rilke, Ringelnatz, Jandl

„Das All im eignen Fell“ versammelt Gedichte aus den Jahren 2015 bis 2022 und reichert sie mit Erläuterungen an. Das „Erinnerungsbuch“ mit dem Untertitel „Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie“ ist auch eine Art Rettungsprojekt.
Die Tatsache, dass so viele poetische Einfälle für immer verloren sind, schmerzt den Autor. Dass es ihm dabei nicht nur um eigene Gedichte geht, macht das Projekt umso schöner. Die Kostproben aus seiner Werkstatt zeigen eine gewisse Bandbreite, sind aber relativ nah an dem, was man aus dem bekannten lyrischen Kanon ableiten könnte.
Da gibt es Anklänge an Rainer Maria Rilke, Joachim Ringelnatz, Ernst Jandl und Joseph von Eichendorff, aber auch „gemäldeartige Emoji-Gedichte“, die zum Teil als Screenshots dargestellt werden. Wenn er Verse von Oskar Loerke neben fremden Tweets zitiert, erkennt man Parallelen. „Die Schatten werden länger, / die schweigsamen Affen der Dinge“ könnte auch ein Tweet sein.
Im zweiten Teil versammelt er „wichtige und stilbildende Accounts der frühen Blütezeit“, etwa von Kurt Prödel (@kurtproedel) oder von einer unbekannten Person, die unter @computerfan2021 twitterte und ihren Account selbst löschte. Oder von DJ Lotti (@donculotte), von der die schlagfertige Sentenz „Laubbläser dümmste Erfindung ever strengt euch mal / bisschen an ihr Erfinders“ stammt - und von Carla Kaspari (@carlsparla), die 2022 ihren ersten Roman publizierte.

Unorthodoxe Grammatik

Setz analysiert typische Stilmittel wie bewusste Rechtschreibfehler und unorthodoxe Grammatik. Dass die Schreibenden meist eine Art Kunstfigur ausbilden, hebt er als Twitter-spezifisches Merkmal hervor. Allerdings gehören solche Kunstfiguren bereits zu Autorisierungsstrategien der klassischen Moderne - von Else Lasker-Schüler bis Paul Valéry.
„Heute Abend roter Mond / Mars noch immer unbewohnt / aber dafür ziemlich hell / Spür das All im eignen Fell“, schreibt Clemens J. Setz im Titelgedicht. Die Twitterpoesie habe ihm geholfen, mit seinem seit der Kindheit bestehenden „Reimzwang“ umzugehen. Sein Account war auch ein „Notizbuch für niemals realisierte Ideen (...), in der Hoffnung, dass jemand anderes etwas aus ihnen macht“. Am wichtigsten scheinen der Austausch und das Gemeinschaftserlebnis gewesen zu sein.
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