Colson Whitehead: „Die Intuitionistin“
© Hanser Verlag
Himmelfahrt mit dem Fahrstuhl
06:49 Minuten
Colson Whitehead
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Die IntuitionistinHanser Verlag, München 2024272 Seiten
26,00 Euro
Zwei verfeindete Fahrstuhlinspektoren-Gruppen, eine Intrige und die Jagd nach Plänen für den perfekten Aufzug – daraus hat Colson Whitehead vor 25 Jahren seinen Debütroman „Die Intuitionistin“ entwickelt. Nun ist er in neuer Übersetzung erschienen.
Lila Mae Watson ist die erste Schwarze Fahrstuhlinspektorin des Landes. Das muss betont werden, denn wie in der Gesellschaft überhaupt steht der Rassismus auch in der Welt des Fahrstuhlinspektionswesens in voller Blüte. Der Anpassungsdruck für Afroamerikaner ist enorm. Wir befinden uns in einer Zeit vor Black Empowerment, vielleicht in den 1940er- oder 50er-Jahren. Schwarze werden noch als „Farbige“ adressiert.
Das Ganze spielt in einer Millionenstadt, in der es hoch hinausgeht, in der unzählige Wolkenkratzer in den Himmel wachsen, Abertausende Fahrstühle gewartet werden müssen. Bei der Metropole dürfte es sich um New York City handeln, wo Colson Whitehead aufgewachsen ist. Hier hat er bei der linken Stadtzeitung „The Village Voice“ gearbeitet, nebenbei seinen ersten Roman verfasst, der unter dem Titel „The Intuitionist“ erschien und nun in überarbeiteter Übersetzung auf Deutsch herauskommt, nachdem er seinerzeit hierzulande floppte.
Lust am Spiel mit Genres
Was man schon vor 25 Jahren hätte merken können: „Die Intuitionistin“ ist ein nicht nur außergewöhnlicher, inhaltlich verblüffender Roman – in ihm zeigt sich auch schon Whiteheads enorme Lust am Spiel mit Genres und an der literarischen Anverwandlung aktueller gesellschaftlicher Debatten.
In dem Roman hat Lila Mae erst vor Kurzem die Fahrstühle im Fanny-Briggs-Gebäude inspiziert. Nun ist einer abgestürzt. Ein Unglück, vielleicht, aber doch eher eine Intrige. Bei der mächtigen Inspektoren-Behörde tobt ein Wahlkampf um das Präsidentenamt, und die Vertreter zweier unterschiedlicher Schulen stehen sich dabei gegenüber.
Da ist auf der einen Seite der Gilde-Vorsitzende Chancre, der die traditionellen Empiriker vertritt – sie sind solide Ingenieure und Handwerker, die alle Maschinen, Motoren, Sicherheitsvorkehrungen mit ihren Werkzeugen prüfen. Und da ist Oliver Lever, der für die Intuitionisten antritt – eine Lehre, die auf den Werken des sagenumwobenen James Fulton beruht.
Die Intuitionisten verlassen sich auf ihr Gespür, ihr Gehör, ihre Intuition. Es hat sich ein heftiger Richtungsstreit zwischen den beiden Lagern entwickelt, und das Wahnwitzige ist: „Niemand kann erklären, warum die Analysen der Intuitionisten um zehn Prozent genauer sind als die der Empiriker.“
Ein Fahrstuhl aus der Perspektive eines Fahrstuhls
Die Intuitionistin Lila Mae befindet sich plötzlich inmitten eines Komplotts, der Roman gerät zu einer Mischung aus Krimi, Verschwörungsgeschichte und dunklem Thriller. Nicht ausgeschlossen, dass die Empiriker den Aufzug im Fanny Briggs Building manipuliert haben, um die Intuitionisten in Misskredit zu bringen.
Nach und nach wird deutlich, dass es aber noch um mehr geht als um ein politisches Amt. Die verfeindeten Parteien sind beide versessen darauf, James Fultons bislang unentdeckte Aufzeichnungen zu finden. Fulton nämlich soll den perfekten Fahrstuhl erfunden haben, die „Black Box“, „ein Fahrstuhl aus der Perspektive eines Fahrstuhls“, ein revolutionäres Projekt, das „uns von den Städten erlösen wird, die wir bis heute erdulden müssen“.
Und Lila Mae soll diese Unterlagen beschaffen, das Vertrauen der Schwarzen Haushälterin des verstorbenen Theoretikers Fulton erschleichen, weil die möglicherweise die Einzige ist, die von den verschwundenen Papieren weiß.
Colson Whitehead erschafft ein Netz aus Intrigen, falschen Spuren, Motiven aus dem Repertoire von Gangsterfilmen. Er lässt halbseidene Geschäftsleute, professionelle Gauner, Spione in Doppelrollen, korrupte Gewerkschaftler, windige Reporter auftreten, erzeugt eine Atmosphäre irgendwo zwischen Film Noir, einem Pynchon-Roman und einer Wissenschaftssatire.
Dafür betreibt er einen enormen Aufwand: Die Welt des Fahrstuhlinspektionswesens ersteht vor unseren Augen. Er baut eine Akademie für Vertikalen Transport und erfindet die führende Fahrstuhl-Zeitschrift „Lift“. Dazu noch eine metaphysische Theorie des Aufs und Abs, die in dem rätselhaften James Fulton seinen Meisterdenker hat.
Dessen wissenschaftliche Texte sind keine Ingenieursprosa, sondern prophetische Poesie: „Ein Fahrstuhl ist ein Zug. Der perfekte Zug hält im Himmel. Der perfekte Fahrstuhl wartet, während seine menschliche Fracht im Schlamm wühlt und die Worte zu finden versucht. In der Black Box ist das chaotische Geschäft der menschlichen Kommunikation auf den Ausstoß von Chemikalien reduziert, die von den Rezeptoren der Seele erfasst und in wahre Sprache übersetzt werden.“
Das Auf und Ab des Aufzugs als Metapher
Es sind „Transport-Epiphanien“, die Fulton beschreibt. Er ist der Schöpfer einer Mythologie und einer Befreiungstheologie. Er träumt von einer ganz anderen Welt, in die sich mithilfe des Fahrstuhls - einer Himmelfahrt gleich – gelangen ließe.
Dass dieser James Fulton möglicherweise ein Schwarzer war, der dank seiner hellen Hautfarbe in einer rassistischen Gesellschaft als Weißer reüssieren konnte, ist nur eine Pointe dieses Buches. Die Fahrstuhl-Metapher – das Rauf und Runter – ist natürlich unübersehbar, wenn es um das Verhältnis zwischen den Races geht. Sie ist vielleicht nicht ganz originell. Aber sie ist selten mit derart großer Konsequenz und Stringenz in Szene gesetzt worden. Und selten hat ein Roman, dessen Kern der Rassismus in den USA ist, dieses Thema mit so großer Raffinesse dekonstruiert und unterschiedliche Stilmittel so spannungsreich miteinander verknüpft.