"Die Evolution der Gewalt"
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Der friedliche Mensch der Frühzeit
06:06 Minuten
Carel van Schaik, Kai Michel, Harald Meller
Die Evolution der Gewaltdtv Verlagsgesellschaft, München 2024368 Seiten
28,00 Euro
Auf der gesamten Erde finden sich archäologische Spuren des Krieges in Form von Massengräbern und Angriffswaffen. Doch sie stammen alle nicht aus der Altsteinzeit. Was bedeutet das für die genetische Prägung des Menschen?
Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf? Keineswegs, erklären Harald Meller, Kai Michel und Carel van Schaik in ihrem neuen Buch „Die Evolution der Gewalt“. Ob der Australopithecus vor 1,8 Millionen Jahren, seine Nachfolger Homo erectus, Homo heidelbergensis und Neandertaler oder eben auch der Homo sapiens in den allermeisten seiner 300.000 Jahre Geschichte: Die frühen Menschen hinterließen so gut wie keine gewalttätig zertrümmerten Skelette und keine Waffen für den innerartlichen Nahkampf.
Genetische Prägung in Altsteinzeit
In ihren Ausführungen verzichten die Autoren auf Fußnoten und Fachwissenschaftlichkeit, fügen jedoch ein ausführliches Literaturverzeichnis bei. Lesefreundlich, aber überzeugend zeigen sie: Die Forschung des 20. Jahrhunderts lag mit der Behauptung falsch, frühmenschliche Skelette mit Knochenbrüchen stammten aus feindlichen Menschenbeziehungen. Neuere Untersuchungen belegen: Tierbisse, Gerölllawinen und umgestürzte Bäume machten unseren Vorfahren das Leben schwer.
Sicherlich ruhen in der Erde zahlreiche Massengräber. Die meisten stammen aus der jüngeren Geschichte, einige sind wenige zehntausend Jahre alt. Die genetische Prägung des Menschen geschah aber nicht, als der Homo sapiens zum Viehtreiber, Bauern und Hochkultur-Schaffenden wurde, sondern in hunderttausenden Jahren Altsteinzeit. Verwische man diese Unterscheidung und ordne archäologische Kriegsspuren samt und sonders „dem Menschen“ zu, gerate diese wichtige Erkenntnis aus dem Blick.
Als Nomaden waren Menschen friedlich
Wann aber kam der Krieg in die Welt? Der lohnte sich für Menschen erst, arbeiten die Autoren heraus, als es mit Viehherden, Kornspeichern und dauerhaften Siedlungsgebieten auch etwas zu verteidigen gab.
In den Jahrzehntausenden davor wanderten Menschen als Nomaden über einen weitgehend menschenleeren Planeten, mit wenig mehr als ein paar Werkzeugen und Haushaltsgegenständen im Gepäck. In dieser genetisch prägenden Frühzeit legten sie es mit Sprache und Verhalten aufs Netzwerken an, auf gute Kontakte und Familiengründungen mit den jungen Menschen der jeweils anderen Gruppen, den Austausch von Dingen und Neuigkeiten.
Sich gegenseitig anzugreifen, hätte sie nur unnötig in Gefahr gebracht – man konnte ja abwandern, wenn es ungemütlich wurde; der Tisch war überall reichlich gedeckt. Hier ruhe unsere genetische Prägung, so die Autoren – und darum brauche es auch so viel Propaganda, bis Menschen bereit seien, einander zu massakrieren.
Toxische Männlichkeit eindämmen
Lässt sich der Krieg auch wieder verlernen? Einfache Antworten geben die Autoren nicht, dennoch ziehen sie mit Blick in die menschliche Frühgeschichte Schlüsse für eine friedlichere Zukunft und zählen auf: toxische Männlichkeitsideale und männerbündisches Verhalten eindämmen. Mit anderen Kulturen den friedlichen, zivilgesellschaftlichen Austausch pflegen.
Soziale Ungleichheit reduzieren, denn die ungleiche Verteilung materieller Ressourcen, selbst ein Kriegsprodukt, ist evolutionär betrachtet Kriegsfaktor Nummer eins. Vor allem aber gelte es, die Mär von der Menschen ist dem Menschen ein Wolf endlich ad acta zu legen.