Ilko-Sascha Kowalczuk: „Freiheitsschock“
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Der lange Schatten der DDR
06:32 Minuten
Ilko-Sascha Kowalczuk
Freiheitsschock. Eine Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heuteC.H. Beck, München 2024240 Seiten
22,00 Euro
Zum 35. Jahrestag des Mauerfalls legt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk eine „andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute“ vor – und erklärt darin AfD- und Putin-Sympathien mit dem Fortleben autoritärer Traditionen.
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der dieses Jahr den zweiten Band seiner umfangreichen Walter-Ulbricht-Biografie vorgelegt hat, ist ein ungemein produktiver Autor: Pünktlich zum 35. Jahrestag des Mauerfalls ist nun auch sein Buch „Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute“ erschienen. Dieses ist freilich weder ein Schnellschuss – der 1967 in Ostberlin geborene Autor forscht und publiziert seit Jahrzehnten zur DDR – noch ein steiles Thesen-Produkt.
Obwohl sich in diesem Buch Kowalczuk durchaus stark persönlich einbringt und aus seiner Abneigung gegen die beiden Bestseller von Dirk Oschmann („Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“) und Katja Hoyer („Diesseits der Mauer“) kein Hehl macht.
Gegen die „Normalisierung“ des DDR-Systems
Denn was sagt es über die Gestimmtheit einer Gesellschaft, wenn zwei Bücher derart erfolgreich sind, die einzig und allein den Westen für sämtliche nach 89/90 entstandenen Enttäuschungen verantwortlich machen bzw. die DDR-Diktatur auf eine Weise weichzeichnen, dass diese gleichsam im luftleeren Raum schwebt, ohne wirklichen Kontakt zu den „normalen Leuten“?
Es ist eben diese „Normalisierung“ des repressiven DDR-Systems, gegen die Ilko-Sascha Kowalczuk ebenso zornig wie eloquent und quellensicher in seinem Buch anschreibt – und dies nicht allein aus Gründen historischer Genauigkeit, sondern auch mit überaus besorgtem Blick aufs Heute.
Erklärt sich, so fragt der Autor, der immense Erfolg der AfD und des Wagenknecht-Bündnisses im Osten nicht auch aus jener mürrisch gepflegten Nostalgie nach einer ethnisch homogenen, etatistisch autoritären DDR, deren psychische Folgeschäden nie wirklich thematisiert wurden?
Denn, geradezu im Gegenteil: Mit der paternalistischen Rede vom „Revolutionsvolk“ wurde ein gesamtdeutsches Narrativ geschaffen, hinter dem sich Millionen Mitläufer in der DDR (die 1989 eben keineswegs demonstrierend auf die Straßen gegangen waren) bequem verstecken konnten.
Doch Kowalczuk geht es nicht ums Moralisieren. Nicht das damalige – erzwungene, freiwillige oder ambivalent schillernde – Mittun der vielen wird zum Ziel seiner Kritik, sondern jene von ihm konstatierte Unfähigkeit, sich mental aus solchen Verstrickungen und Lebenslügen wirklich zu lösen.
Ohne die wirtschaftlichen Verwerfungen im Folge des Wiedervereinigungsprozesses kleinzureden (en détail sind diese thematisiert in seinem Buch „Die Übernahme“) kreist sein neues Werk um die Frage, wie in inzwischen wohlhabenden Regionen, deren Bewohner überdies bei Umfragen mehrheitlich ihre persönliche Situation als gut bis sehr gut bezeichnen, dennoch das Ressentiment, ja sogar der Hass geradezu flächendeckend wuchern kann: ein „Freiheitsschock“, der zu Aggressionen führt, nicht zuletzt zu xenophobischem Furor.
Fortleben der Staatshörigkeit
In drei Teilen, die sich – ganz im Sinne eines fluiden, doch argumentativ kohärenten Essays – thematisch durchaus überschneiden, spürt Kowalczuk den Prägungen vor 1989 nach, alsdann den Erwartungen, die mit der Wiedervereinigung verknüpft waren, und zum Anschluss den Positionierungen zahlreicher Ostdeutscher im Jahr 2024.
Eine seit Wilhelminischem Kaiserreich, NS-Zeit und DDR-Jahrzehnten nahezu ungebrochene autoritäre Tradition wiege auch deshalb als „schweres Gepäck“, da sie nie als solche wahrgenommen, geschweige denn kritisch aufgearbeitet wurde. Die Staatshörigkeit (inklusive der Widerstandstravestie eines Grummelns „gegen die da oben“) wurde dabei nicht nur in der DDR kultiviert, sondern überlebte auch den Freiheitsmoment von 1989.
„Helmut Kohl, nimm´ uns an die Hand und führ´ uns in das Wirtschaftswunderland“ zitiert Ilko-Sascha Kowalczuk eine der berühmten Parolen der Demonstrationen nach Mauerfall – übrigens ohne wohlfeilen Spott, wenn auch mit Grausen. Psychologisch nicht unplausibel deutet er die heutige Putin-Sympathie, aus der Hunderttausende AfD- und BSW-Wähler kein Hehl machen, als eine Nachwirkung einstiger DDR-Propaganda, vor allem jener infamen Umwertung der Vokabel „Frieden“ – und als eine Art verqueren Protest gegen den bundesdeutschen (Sozial-)Staat, der sich angeblich „nicht um uns kümmert“.
Entscheidet sich „1989“ in der Ukraine?
Dass derlei mehr ist als eine unschöne, wenngleich regional begrenzte Marotte, macht der Autor am Schluss noch einmal in drastischen Worten deutlich. Was nämlich, wenn gewisse Tendenzen im Osten nicht etwa anachronistische Nachzügler sind, sondern Aufscheinen einer Stimmung, die bald auch auf die alten Bundesländer übergreifen könnte?
Jenseits deutsch-deutscher Nabelschau ist deshalb in diesem unbequemen Buch auch dies zu lesen: „In der Ukraine wird gerade entschieden, wie ‚1989‘ ausgeht.“