Roman von Magdalena Platzová

Felice Bauer und ihr Leben nach Kafka

Buchcover: "Leben nach Kafka" von Magdalena Platzová
© BALAENA Verlag

Magdalena Platzová

Leben nach KafkaBalaena Verlag, Berlin 2024

300 Seiten

28,00 Euro

Von Olga Hochweis |
Wer war Felice Bauer jenseits des Bildes, das viele (männliche) Kafka-Forscher, auf Grundlage der Schriftstellerbriefe zeichneten? Das Leben nach Kafka steht im Zentrum des Romans von Magdalena Platzová - eine Mischung aus Dokumentation und Fiktion.
Die tschechische Autorin Magdaléna Platzová hat eine Vorliebe für historische Frauenfiguren. In vorangegangenen Romanen folgte sie der jüdischen Malerin Friedl Dicker-Brandeis oder auch der Anarchistin Emma Goldman. Nun ist in deutscher Übersetzung der Roman „Leben nach Kafka“ erschienen.
Es ist eine Annäherung an Felice Bauer, die während der mehrjährigen Ver- und Entlobung mit Franz Kafka mehrere Hundert Briefe von ihm erhalten hatte. Die Erinnerungskultur zu seinem 100. Todestag glich einem Tsunami – dagegen ist praktisch nichts bekannt über das Leben und die Jahrzehnte, die Felice Marasse, geborene Bauer, nach der Flucht aus Nazi-Deutschland bis zu ihrem Tod 1960 in den USA verbrachte.

Dokumentarisch-fiktive Figur von Henry Marasse

Am Anfang des Romans steht ein Brief von Felices Sohn. Ein Brief an Elias Canetti, der Felice Bauer Kaltherzigkeit und Berechnung unterstellt hatte, weil sie es „übers Herz gebracht habe“, Kafkas rund 500 Briefe zu verkaufen. Nachdrücklich pocht der Sohn im Brief auf Richtigstellung. Seine Erzählperspektive liefert im Roman den Gegenentwurf zum vorherrschenden Bild von Felice Bauer.

Sie hing an Kafkas Briefen mit einer nahezu unbegreiflichen Hartnäckigkeit, es war nicht leicht, sie zum Verkauf zu bewegen. Der Verleger Schocken und Max Brod versuchten mehrere Jahre lang, sie zu überreden. Am Ende gab Mutter nach. Aber nicht des Geldes wegen, obwohl sie krank war und Geld brauchte. Sie hat wohl eher irgendwann begriffen, dass sie nicht imstande war, die Briefe wie geplant zu vernichten und dass sie mit ihrem Tod die Kontrolle über sie verlieren würde.

Der Brief ist fiktiv. Magdalena Platzová hat Henry Marasse, den Sohn von Felice Bauer kennengelernt. Aber sie nimmt sich die Freiheit, sein – und das Leben weiterer Figuren – in einem Roman-Hybrid aus Dokumentation und Fiktion neu auszugestalten.
Die Grundkoordinaten basieren auf Fakten. Bruchstückhaft tauchen sie auf, sei es als knappe Rekapitulation von Recherchen und Begegnungen der Autorin oder durch direkte Rede wechselnder Figuren.

Felice Bauer hütete Kafka-Briefe in Schuhkarton

Vom Sohn erfährt Magdalena Platzová, dass die Kafka-Briefe jahrzehntelang in einer Pappschachtel der tschechischen Schuhmarke Bata verborgen lagen, von ihrer Empfängerin wie ein Lebensgeheimnis gehütet: während der Berliner Jahre als verheiratete Bankiersgattin und Mutter ebenso wie im ersten Exil in der Schweiz als auch bei der Emigration in die USA.
Felice Marasse – schon fast 50, als man sich dauerhaft in Los Angeles niederließ- verdiente das Geld für die Familie mit Massage und Kosmetik in der eigenen Wohnung, bevor sie mit der Schwester einen Laden eröffnete. In knappen Momentaufnahmen skizziert Magdalena Platzová das reale Leben in der deutsch-jüdischen Exilgemeinde Kaliforniens, schlüpft aber auch in die Gedankenwelt Felices zwischen Disziplin und Sehnsucht.
Die Fahrt dauert nur 12 Minuten, aber sie ist berauschend. In Pasadena endet der neue Highway und geht in eine Landstrasse über, die quer über den Kontinent verläuft. Felice spielt mit dem Gedanken, diesmal nicht zu bremsen, nicht umzukehren, sondern einfach weiterzufahren in ihrem roten Ford, durch Städte mit märchenhaften Namen wie Flagstaff, Santa Fé, Tulsa, Phoenix, Oklahoma.
Tage und Nächte durch das unendliche Land zu fahren, unter einem Himmel, der ebenso unersättlich ist wie sie. Alles weit hinter sich zu lassen, es bleiben nur Tempo und der Raum, der zum größten Teil aus Himmel besteht.

Platzová zeichnet auch Grete Blochs Leben nach

Felice Bauers imaginierte Innenwelt tritt wiederkehrend in Resonanz mit Kafka – etwa zu seinem Amerika-Fragment „Der Verschollene“ (zum „Naturtheater von Oklahoma"). Der Schriftsteller ist darüber hinaus Bezugspunkt für weitere Protagonisten im Roman.
Unchronologisch, kreuz und quer durch Raum und Zeit folgt er u.a. dem Schicksal von Felices Freundin Grete Bloch, ebenfalls Adressatin von Kafkas Briefen. Sie wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Auch Blochs Gedanken imaginiert die Autorin, konkret die letzten Monate in Italien vor der Deportation – wobei auch reale Archivdokumente und Briefe einer italienischen Forscherin zitiert werden. Nüchterne Dokumentation trifft auf poetisches Fabulieren.
Zeitebenen und Erzählperspektiven ändern sich in kammerspielartigen Kapiteln, die jeweils mit einer Jahreszahl und Ortsangabe überschrieben sind. Mal springt der Roman zu Grete Blochs Besuch bei Felice in Genf 1935, dann wieder zu Max Brod 1955 in Tel Aviv – und wiederkehrend zu Felices Sohn quer durch die neun Jahrzehnte seines Lebens.

Magdalena Platzová: Kafka-Dozentin in New York

In der Schlüsselfigur des New Yorker Kinder- und Jugendpsychiaters Henry Marasse bündeln sich zentrale Motive des Romans. Er habe seine Mutter nur ein einziges Mal weinen sehen, bei der Flucht aus Berlin. Für den damals Zehnjährigen war die Stadt ein Synonym fürs verlorene Paradies.
Heimatverlust, Erinnerung, Identitätssuche – das sind Themen dieses so mutigen wie sensiblen Romans, der nicht zuletzt auch die Selbstbefragung von Magdalena Platzová reflektiert. Die gebürtige Pragerin führt seit Langem ein nomadisches Leben, das sie 2010 auch als Kafka-Dozentin nach New York verschlug.

Es gab gute Tage, an denen ich durch die Straßen von Manhattan schaukelte wie eine Möwe auf den Wellen, dankbar für die ganze Vielfalt und für die Liebe, die mich in diese Stadt geführt hatte. Und dann gab es schlechte Tage, (…) ich studierte Kafka und versuchte zu schreiben, aber nichts hatte das rechte Gewicht, nichts war an seinem Platz, am allerwenigsten mein ausgerenktes, umgetopftes Ich, das – trotz seiner offensichtlichen Nichtigkeit – so schmerzte.

Das Gefühl der eigenen Nichtigkeit: Felice Bauer hätte sicher gewusst, wovon Magdalena Platzová spricht. Ein verletzendes Bild war auf Basis von Kafka-Briefen von ihr gezeichnet worden. In ihrer New Yorker Zeit hatte Magdalena Platzová beschlossen, herauszufinden, wer Felice Bauer wirklich war. Es gehört zu den Stärken dieses lesenswerten, vielstimmigen Romans, dass sie diese Frage nicht eindeutig beantwortet.
Mehr zu Franz Kafka