Richard Overy: "Warum Krieg?"

Von Napoleon bis zum Klimakonflikt

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Cover des Sachbuchs "Warum Krieg?" des britischen Historikers Richard Overy. Buchtitel und Autorenname vor diffusem schwarz-grauen Hintergrund.
© Rowohlt Berlin

Richard Overy

Übersetzt von Henning Thies

Warum Krieg? Rowohlt , Berlin 2024

366 Seiten

28,00 Euro

Von Michael Kuhlmann |
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Ist Krieg Teil der menschlichen Natur oder geht es doch immer nur ums Öl, um eine vermeintliche Sicherheitspolitik oder die Religion? Der britische Historiker Richard Overy beschäftigt sich in seinem neuen Sachbuch mit den Ursachen von Kriegen.
Es braucht schon die Belesenheit eines Richard Overy, um solch ein Buch zu schreiben. Knapp zusammenzufassen, was Biologen, Ökologen oder Wirtschaftswissenschaftler über die Ursachen von Kriegen herausgefunden haben - das ist eine Sache. Eine andere ist, diese Erkenntnisse als Historiker zu überprüfen. Und zwar nicht, indem man sich auf zwei, drei Jahrhunderte beschränkt, sondern indem man bis in die Antike und in die Frühgeschichte zurückblickt. Eben dies tut Richard Overy auf diesen 360 Seiten. Dabei teilt er die Erklärungsansätze in zwei Gruppen ein: die der Humanwissenschaften auf der einen, die der Geschichts-, Sozial- und Politikwissenschaften auf der anderen Seite.

Betrachtet man diese beiden Erklärungsebenen [...], so kann Krieg als eine Mischung von Imperativen verstanden werden, die im Lauf der menschlichen Geschichte erstaunlich konstant geblieben sind. [...] Angesichts dieser Komplexität muss man sich von der Vorstellung verabschieden, dass es eine einfache Erklärung für Krieg geben kann. 

Richard Overy in "Warum Krieg?"

Wie lassen sich Kriege verhindern?

Um das zu durchleuchten, nimmt sich auch Overy eine Wissenschaft nach der anderen vor. Als fruchtbar erweisen sich die Geschichts-, Sozial- und Politikwissenschaften. Denn hier schwingt stets auch die Frage mit: Wie kann ich einen Krieg verhindern? Relevant sind laut Overy vier Sektoren: Kriege können geführt werden um Rohstoffressourcen, aus religiösem Fanatismus, aus Sorge um die eigene Sicherheit und aus Machtgier, aus Hybris. Hier schildert das Buch ausführlich drei Fallbeispiele: Alexander den Großen, Napoleon Bonaparte und Adolf Hitler.

Alle drei [...] setzten Ziele ohne [...] Rücksicht auf die langfristigen Folgen für jene, die sie als Führer angeblich vertraten. Die unbeschränkte Kriegführung [...] war in allen drei Fällen [...] Ergebnis [...] auch der Bereitschaft der Anhänger, eine charismatische Führung zu akzeptieren und die damit verbundenen Kosten zu tragen. Hinzu kamen historische Umstände, die das Erringen einer solchen Führungsposition überhaupt erst ermöglichten. Dieses 'toxische Dreieck' [...] bildet den Kontext, in dem von Hybris geprägte Ambitionen gedeihen können. 

Richard Overy in "Warum Krieg?"

Noch ergiebiger als der Abschnitt über die Machtgier als Kriegsgrund ist der Abschnitt über das Sicherheitsbedürfnis. Dabei räumt Overy direkt mit einer idealistischen Vorstellung auf.

Die Behauptung, institutionelle und völkerrechtliche Beschränkungen hätten die Wahrscheinlichkeit von Kriegen reduziert, bleibt eine Illusion.

Richard Overy in "Warum Krieg?"

Staaten haben mitunter konträre Interessen

Dennoch erklärt Overy Institutionen wie die UNO oder den Völkerbund keineswegs für überflüssig. Offenkundig verlangt er aber, dass dort realistisch gedacht wird: Wer im internationalen System agiert, der muss sich klar darüber sein, dass ein anderer Staat ureigene, womöglich konträre Interessen hat. Und dass man letztlich nur versuchen kann, diese Interessen in einer Weise auszubalancieren, dass die Welt eine Überlebenschance bekommt. "Neorealismus" nennt sich dieser Denkansatz, für den etwa ein Henry Kissinger stand. Auch wenn der sich mehrfach irrte.

Der Neorealismus ist bei der Erklärung von Kriegsrisiken immer dann am überzeugendsten, wenn es um die Bewertung der Intentionen anderer Staaten geht, da der Spielraum für Fehler bei der Über- oder Unterschätzung von Bedrohungen wichtige Auswirkungen für die Bereitschaft haben kann, einen Krieg zu riskieren, oder massiv aufzurüsten, um ihn abzuwenden.

Richard Overy in "Warum Krieg?"

Hier hätte Overy durchaus noch einen genaueren Blick auf das mögliche Handwerkszeug werfen können: Münchner Neorealisten um den Politologen Gottfried-Karl Kindermann entwickelten die sogenannte Konstellationsanalyse. Dazu gehörte unter anderem die Untersuchung der Frage, warum die Gegenseite so verquer denkt, wie sie denkt. Hat man diesem Fehlschluss womöglich durch eigenes Verhalten ungewollt Vorschub geleistet?

Klimawandel als Kriegstreiber?

Heute scheinen politische Umsicht und der realistische Blick über den Tag hinaus nötiger denn je. Mit idealistischem Weltverbesserertum allein wird man nicht weit kommen. Denn Richard Overy hebt zu Recht hervor, welch brisante Probleme sich auftürmen - gerade im ökologischen Bereich. Wohl habe es seit Jahrtausenden Kriege gegeben wegen versiegender Wasserquellen oder weil Veränderungen in Flora und Fauna Menschen zur Migration zwangen. Aber:

Was all diese Möglichkeiten deutlich gefährlicher macht als in der Vergangenheit, ist die Größenordnung des Problems. Ressourcen sind begrenzt, aber die Nachfrage steigt gnadenlos weiter an. Der Klimawandel ist ein Phänomen mit schwerwiegenden Folgen globalen Ausmaßes. Hinzu kommt, dass diejenigen Staaten oder Gemeinschaften, die davon wohl am stärksten betroffen sein werden, Zugang zu modernen Waffen haben. 

Richard Overy in "Warum Krieg?"

Alle tragen Verantwortung

Also ein ähnlich resignatives Fazit wie vor 90 Jahren bei Sigmund Freud - nur auf viel breiterer Basis? In der Tat beschränkt sich Richard Overy auf reine Ursachenforschung. Wie man künftige Kriege verhindern könnte - das deutet er allenfalls zwischen den Zeilen an. Insofern ist das Buch eher eine theoriebetonte Lektüre. Lesenswert wird es aber dadurch, dass es griffig zusammenfasst, wo Gefahren lauern. Und dass es damit klarstellt, wer für Frieden Verantwortung trägt: die Politik, die Gesellschaft - aber vielfach auch jeder einzelne Mensch.
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