Timothy Snyder: „Über Freiheit“
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Der Wert aller Werte
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Timothy Snyder
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
Über FreiheitC.H.Beck, München 2024410 Seiten
29,90 Euro
Jenseits von Pathos und Reduktion: Der Historiker Timothy Snyder setzt sich in seinem neuen Buch mit dem großen philosophischen, aber auch praktischen Thema der Freiheit auseinander.
Ein praxisbezogenes Nachdenken über Freiheit hat seit langem Tradition – freilich vor allem im angelsächsischen Sprach- und Kulturraum. So gilt John Stuart Mills „Über die Freiheit“ aus dem Jahr 1859 bis heute als prägend in seinen Warnungen vor der Tyrannei einer entfesselten Mehrheit und im Propagieren eines Freiheitsbegriffs, der quasi alles erlaubt, solange es dem anderen nicht direkt schadet. Isaiah Berlins Überlegungen zur sogenannten „negativen Freiheit“ (ergo der Abwesenheit von Zwang) sind davon ebenso geprägt wie Judith Shklars „Liberalismus der Furcht“, der im persönlichen und institutionellen Vermeiden von Grausamkeit das entscheidende Merkmal der Freiheit ausmacht.
Timothy Snyders soeben in deutscher Übersetzung erschienenes Buch „Über Freiheit“ bezieht sich deshalb auf Mill, möchte jedoch etwas Entscheidendes hinzufügen, und zwar ein praxistaugliches Plädoyer für jene „positiven Freiheiten“, ohne die es seiner Erfahrung nach dann eben doch nicht geht. Wobei das Augenmerk tatsächlich auf Erfahrung liegt: Der 1969 geborene amerikanische Historiker und streitbare Zeitanalytiker Snyder, der grundlegende Bücher zu totalitären Massenverbrechen wie „Bloodlands“ und „Black Earth“ geschrieben hat (nicht zu vergessen seine 2017 erschienene Anti-Trump-Studie „Über Tyrannei“), äußert sich hier bewusst als einer, der bei seinen zahlreichen Aufenthalten in der überfallenen Ukraine etwas immens Wichtiges erfahren hat: Nicht allein die zu erkämpfende Freiheit von russischer Besatzung spornt die Menschen an, sondern noch mehr die konkrete Vision einer Freiheit für ein würdiges, selbstbestimmtes Leben.
Dies, so Snyder, stehe in frappierendem Gegensatz zu jener lärmenden Freiheits-Travestie, die bei der amerikanischen Ultrarechten zelebriert wird, jedoch auch so manch europäische Marktliberale beeinflusst hat: Freiheit als die größtmögliche Abwesenheit eines (Sozial-)Staates. Die Mär, dass der Markt schon alles richten werde, wird von ihm plausibel widerlegt – wiederum aufgrund eigener Beobachtungen im sträflich nicht-inklusiven amerikanischen Gesundheitswesen, in dem es bis heute als Manko betrachtet wird, arm und schwarz zu sein. Freilich weitet Snyder seinen Freiheits-Begriff hier keineswegs als linker Dogmatiker, der – spiegelbildlich zu seinen rechten Pendants – nun den Kapitalismus als Haupthindernis der Freiheit missverstehen würde. Die Präferenz des Autors für mittel- und nordeuropäische Wirtschaftsmodelle wird nicht verschwiegen, doch bleibt sein Buch – immerhin fünfhundert Seiten inklusive umfangreichem Anhang – bei dieser Gegenüberstellung nicht stehen.
Fünf Elemente einer „positiven Freiheit“
Fünf Elemente macht Snyder aus, die positive Freiheit wenn schon nicht garantieren, so doch zumindest ermöglichen. Da ist die „Souveränität des Körpers“, der nach der Geburt und dem lebensnotwendigen Abnabeln bald die Fähigkeit erlernen muss, eigene Entscheidungen zu treffen. Hinzu kommt eine ebenfalls positiv gesehene „Unberechenbarkeit“ und „Mobilität“, die mit jugendlicher und dann erwachsener Neugier diverse Grenzen erweitert, all dies jedoch idealerweise im Verbund mit „Faktizität“ als viertem Element: „Was wir nicht wissen, kann uns schaden, und was wir wissen, kann uns ermächtigen.“ Als Fünftes mit der „Solidarität“ jedoch das Wichtigste, nämlich die Erkenntnis, dass Freiheit für alle da ist und sich egozentrische Hybris deshalb verbietet.
Hat Timothy Snyder somit eine Moralfibel verfasst, die sich in Benimm-Regeln erschöpft? Keineswegs. Auch geht es – bei aller Wertschätzung für ein möglichst gerecht austariertes Regierungshandeln als Spiegel einer ebensolchen Gesellschaft – nicht um Umerziehung, sondern um ein kraftvolles, gedanklich und sprachlich packendes Plädoyer für die beträchtlichen Möglich-, aber eben auch Machbarkeiten einer solchen Freiheit.
Ohnehin gilt: „Freiheit ist etwas Positives; sie in Worte zu fassen ist genauso ein Akt der Schöpfung, wie sie zu leben. Freiheit ist nicht nur die Abwesenheit des Bösen, sondern auch die Anwesenheit des Guten.“ Und da sich Timothy Snyder, geprägt von kontinentaleuropäischen Denkerinnen und Denkern wie Edith Stein, Simone Weil, Václav Havel und Leszek Kolakowski, einem „Es ist Philosophie, aber es beharrt auf Erfahrung“ verpflichtet weiß, kommt hier unter vielen anderen Zeugen auch ein ukrainischer Veteran zu Wort, der im Krankenhaus auf eine Prothese wartet. Was Freiheit sei? Freiheit, sagt er, "wäre ein Lächeln auf dem Gesicht seines Sohnes".