Tex Rubinowitz: "Dreh den Mond um"

Popkulturelle Abenteuer mit Marvin Gaye und David Lynch

06:35 Minuten
Buchcover von Tex Rubinowitz' Buch "Dreh den Mond um"
© Ventil Verlag

Tex Rubinowitz

Dreh den Mond umVentil Verlag, Mainz 2024

272 Seiten

20,00 Euro

Von Oliver Jungen |
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Tex Rubinowitz webt in "Dreh den Mond um" ein erzählerisches Ich in die Pop- und Literaturgeschichte ein. Der Autor kreiert charmante Storys mit popkulturellen Details. Mit auf der Bühne: Musiklegende Marvin Gaye und andere prominente Poplegenden.
Der Autor von "Dreh den Mond um" wurde 1961 als Dirk Wesenberg in Hannover geboren. Unauffälliger geht es kaum. Selbst der Mutter soll der dem eigenen Kind gegebene Name zu öde gewesen sein, sie nannte den Sohn Sputnik. Mit Anfang 20 bog dieser Sputnik dann selbst die eigene Identität zurecht, nannte sich so flamboyant wie irritierend Tex Rubinowitz, zog ins wollüstige Wien und etablierte sich als Cartoonist, Musiker, Pop- und Reiseschriftsteller, den das Schräge immer mehr interessierte als das Geradlinige.
Seine gewitzten Fiktionen dockt Tex Rubinowitz gern an wahre Begebenheiten an, teils aus dem eigenen Leben, teils aus der Kulturgeschichte. Indem er diesen realen Momenten eine Bühne baut, hebt er sie aus den Zeitläuften heraus. Kurz: Er macht aus schnöder Allerweltswirklichkeit eine leuchtend lebendige. Das funktioniert nur, weil er ein begnadet guter Stilist ist.

Fiktiver Ich-Erzähler trifft Soulstar Marvin Gaye

Wie gut, das zeigt gleich die erste Geschichte des vorliegenden Buchs. Der Ich-Erzähler leidet am außer Kontrolle geratenen peripheren Sehen: Er sieht zu viel zugleich. Rubinowitz, der Pop-Autor, nennt das Syndrom „Bozeman’s Simplex“, was medizinisch klingt, aber in Wahrheit auf eine fantastisch lärmende 90er-Jahre-Band Bezug nimmt. Mit ärztlich verordnetem Jod soll diese paradoxe Blindheit – durch zu großes Sehvermögen – behandelt werden. Das Ergebnis ist fatal:

Was allerdings passierte, war, dass mein Augendruck so schlimm wurde, dass ich mir einbildete, meine Augen könnten wie Tischtennisbälle jeden Moment aus ihren Höhlen ploppen. Ganz davon abgesehen, dass sich vor das Bild und die vielen anderen, zusätzlich übereinandergeschichteten Bilder, die ich nach wie vor sah und die an eine überforderte Cortex weitergegeben wurden, ein hellbräunlicher Schleier legte wie eine nikotingelbe Gardine, Ocker gar, Ocker als generelle Verliererfarbe – du kannst nicht siegen in Ocker, mein Freund. Und sehen schon gar nichts.

Aus "Dreh den Mond um"

Bald wird klar, dass wir uns im Jahr 1982 befinden. Der Ich-Erzähler reist zur Kur ins belgische Ostende – eine Stadt, die im Prinzip genau das sei, was ihr Name evoziere. Dort trifft er auf den Soulsänger Marvin Gaye, der Anfang der 80er in Ostende lebte, um dem Kokain und der US-Steuerbehörde zu entkommen.
Die Erzählung, schön in Ocker gehalten, handelt nun davon, wie der Protagonist dem sehr zugänglichen Marvin Gaye ein paar übersexualisierte Textfetzen für dessen größten Hit „Sexual Healing“ liefert, bis er Gaye – zu viel sehend wieder einmal – einer großen Verschwörung verdächtigt und alles implodiert. Und doch geht mit dieser Begegnung die Genesung des Ich-Erzählers einher.

"Sexual Healing" entstand im belgischen Ostende

Die wild herbeifantasiert erscheinenden Passagen der Geschichte haben einen echten Kern. Den lässigen Song „Sexual Healing“, der heute vermutlich als gesungene Belästigung gelten würde, komponierte Marvin Gaye tatsächlich in Belgien. Der mit Gaye befreundete Musikjournalist David Ritz, der in Ostende ein wenig an der Textfindung beteiligt war, klagte nach dem Tod des Musikers den Status als Mitautor ein. Erst bei Rubinowitz aber wird aus dem simplen Streit um Tantiemen ein in sich rundes Kapitel der Heilsgeschichte der Popmusik.
Damit ist der Rahmen abgesteckt auch für die 20 weiteren Kurzgeschichten, in denen sich immer wieder ein freischwebendes erzählerisches Ich elegant in die Pop- und Literaturgeschichte einschreibt, indem es durch die Ritzen zwischen historisch verbürgten Momenten schlüpft und zum Teil der Story wird. Das gut Erfundene ist dem Wirklichen dabei überlegen. Mit Verfälschung der Tradition hat das nichts zu tun, eher schon mit kreativer Kollision künstlerischer Energien, also mit dem Ur-Impuls aller Kultur.
Köstlich ist es beispielsweise, wie der böse alte Autor Joachim Lottmann, Koeppen-Preisträger des Jahres 2010, auf Lottmann-Art einen Schlag mitbekommt. Der Erzähler trägt diesmal den Namen Tex Rubinowitz:

Der Koeppen-Preis wird alle zwei Jahre vergeben, und der nächste Preisträger jeweils vom aktuell Ausgezeichneten bestimmt. Lottmann war von Sibylle Berg vorgeschlagen worden, und als nun Lottmann Preisträger war, bot ich ihm einen Teil des zukünftigen Preisgelds (die exakte Summe werde ich nicht nennen), wenn er mich als seinen Nachfolger vorschlagen könnte – und so kam es auch.

Aus "Dreh den Mond um"

Von Elfriede Jelinek zu Joy Fleming bis David Lynch

Das ist natürlich gelogen. Tatsächlich hatte Lottmann Anna-Katharina Hahn als Nachfolgerin ausgewählt – und sich dann in seinem Buch „Happy End“ über diese Wahl und Hahns Werk lustig gemacht. Rubinowitz dreht die Verdrehung noch eine Windung weiter – und damit einem viel besseren Ende entgegen.
Vom Dadaisten Kurt Schwitters bis zur Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, von Iggy Rose, die als nackte Muse des Pink-Floyd-Gründer Syd Barrett bekannt und eben dadurch degradiert wurde, bis zu Harvey Ball, dem Erfinder des knallgelben Smileys, der versäumt hatte, darauf ein Patent anzumelden, von der Schlager-Drossel Joy Fleming bis zum Scratching-Pionier Grand Wizard Theodore, von der tragischen Anti-Ikone Peg Entwistle, die sich 1932 vom „H“ des Hollywood-Schriftzugs stürzte, bis zum großen Regie-Magier David Lynch reichen die Haupt- und Nebendarsteller der jüngeren Kulturgeschichte, an die sich Tex Rubinowitz in seinen fiktiven Kolportagen heranwanzt.
Ihre Biografien nehmen dabei oft Wendungen, die ihnen selbst wohl gefallen hätten. Im großen Schlusskapitel erscheinen alle diese Pop-Gespenster dann noch einmal zur melancholischen Abschiedsparty in einer Bar in Islington.
Auf Schritt und Tritt ist zu merken, dass hier ein "Auskenner" spricht, der tatsächlich zu viel zugleich sieht. Schnell wird man anfangen zu googeln. Und auch wenn sich manche Formulierung sehr ähnlich in der Wikipedia findet, lässt sich mit „Dreh den Mond um“ fast so viel lernen wie mit einem ganzen Jahrgang alter „Spex“-Hefte.
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