Es gibt sie noch, jene Orte auch im deutschsprachigen Raum, die sich durch einen restaurativen Stillstand auszeichnen – wie jenes fränkische Dorf, das Krimiautor Tommie Goerz in seinem zweiten literarischen Roman vorstellt. An einem Januartag steht der 80-jährige Bauer Max hinter seinem Stubenfenster. Er schaut zum sacht fallenden Schnee. Die Szenerie erscheint ihm friedlich. Da wird die Stille durch eine unheilvolle Glocke unterbrochen, die Dorfbewohnerin Gunda stets aus nur einem einzigen Anlass läutet.
„Die Mehlmeisels Gunda läutete nämlich die Glocke, wenn jemand gestorben war. Damit alle im Dorf wussten, dass wieder einer fehlte. Sie tat das schon weit über zwanzig Jahre – seit dem Tag, an dem ihre Mutter gestorben war.“
Rustikales Gewand des Dorflebens
Schon bald erfährt Max, dass sein bester Freund Schorsch den Lebenskreislauf beendet hat, der in katholischen Gegenden mit der Taufe seinen Anfang nimmt und der mit dem Ableben noch nicht endet, sondern erst mit dem Übergang von der einen in die andere Welt. Der hat mehrere Stufen, zunächst, der Tradition folgend, die Totenwacht. Auf dieser versammelt sich das Dorf noch einmal um den Verstorbenen. Erst nach dieser Wacht kommt der Bestatter und holt den Aufgebahrten ab.
Es folgt, schön geordnet, der sogenannte Leich mit der Beerdigung und einer allerletzten Zusammenkunft. Das Sterben des Schorsch, die Wacht und der Totengottesdienst bilden die Rahmung dieses straff komponierten Romans, der wie selbstverständlich die eigentlich für das Drama geltenden Aristotelischen Einheiten von Zeit, Raum und Handlung wahrt, somit nachgerade klassisch erscheint – stilistisch wie gedanklich eingekleidet in ein äußerst robustes, rustikales Gewand.
„Die Männer waren alle gleich nach der Arbeit gekommen, zur Wacht putzte man sich nicht heraus. Das tat man erst zur Leich, wenn man ins Wirtshaus ging. Zur Wacht ging man, wie man war.“
Nie wieder – der Tod
Die Wacht umfasst den überwiegenden Teil dieses schmucklos erzählten Reigens, der bereits auf der bewusst einfach gehaltenen sprachlichen Ebene lebenspraktisch gestimmt ist wie der Alltag jener hier vorgestellten Dörfler.
„Die Haare wuchsen, und man musste sie schneiden. Genauso musste man sterben. Das konnte man nicht einfach ausfallen lassen“, heißt es an einer Stelle – und so ist diese Zusammenkunft zu Ehren des Schorsch ein hinnehmbares Ereignis, bei dem vor allem die Männer beisammensitzen und nach alter Sitte erzählen.
Max, der beste Freund des Verstorbenen, fällt während dieser Zusammenkunft in eine Melancholie und wird so zum stillen Beobachter der An- und Abgänge verschiedener Besucher, der unterschiedlichen Geschichten und knapp gehaltenen Disputationen, während jener, der fehlt, der aufgebahrte Schorsch, noch einmal in ihrer Mitte liegt. Vermisst wird er augenscheinlich nur von Max.
„Nie wieder würde er bei ihm Äpfel holen, nie wieder würden sie gemeinsam Tee trinken und im Garten, in der Werkstatt oder auf seinem Chaiselongue sitzen und den Vögeln lauschen, dem Knacken des Ofens oder dem Nichts.“
Ablehnung des vermeintlich Anderen
Erinnert werden Dorfgeschichten der vergangenen acht Jahrzehnte. Sie ergeben ein vages Bild dieser unbarmherzigen Landgemeinschaft, die sich gegen alles Neue mit sturer Vehemenz wehrt. Undenkbar erscheint, dass geflüchtete Menschen im leerstehenden Schulhaus untergebracht werden.
In einer Nacht- und Nebelaktion wurde der Bau Anfang der 90er Jahre mithilfe mehrerer Traktoren abgerissen. Durch die Ablehnung des vermeintlich Anderen wird auch Individualität unterdrückt, das Abweichende sanktioniert; wie jenes Kind mit roten Haaren, das noch in der Nachkriegszeit von seinen Eltern vor der Gemeinschaft verborgen wird.
„So waren die Zeiten damals. Rote Haare waren ein Mal des Teufels. Dieses Kind hatte keinen Namen, es durfte nie raus, niemand durfte es sehen, es war tagein, tagaus eingesperrt. Es wurde nicht getauft, kam nicht in die Schule, durfte keine anderen Kinder sehen und nicht mit ihnen spielen. Es lernte nie sprechen, bekam nur Lumpen als Kleidung und Reste zum Essen. Es wurde schlimmer gehalten als das Vieh.“
Kreisläufe des Lebens enden nicht
Einem Bauerssohn wird die Heirat mit einer jungen Frau aus ärmlicherem Hause verboten, denn „wenn ein Bauer heiratet, muss sich die Saat auch lohnen, sonst wird das nichts und Schluss.“ So begründet es der Vater und lässt sich nie erweichen. – Und Schluss!
„Im Schnee“ ist eine Geschichte über zahlreiche Beendigungen, über verschiedene Arten des Abschlusses, ein Requiem, aber kein Trauerbuch, ein Text, der ruhig beginnt und dann immer stiller, schweigsamer wird. Aber in dem auch klar wird, dass zwar das Leben endet, aber nicht die Kreisläufe, dass Riten stabilisieren, wo scheinbar der Boden weggezogen wird, dass die Rückschau dem Weitergehen dient.
Man liest dieses Buch beinahe andächtig, ohne abzusetzen. Dieser makellose, wie mürbe erscheinende Stil hält vermutlich jede Leserin, jeden Leser, im Fokus – beeindruckt vom sicheren Strich des routinierten Autors Tommie Goerz, der erst vor zwei Jahren mit „Im Tal“ sein Gesellen- und jetzt bereits sein Meisterstück der literarischen Öffentlichkeit präsentiert.