Wolodymyr Selenskyj ist ein kriegsführender Präsident im Social-Media-Zeitalter, der virtuos mit Instagram und der Macht der bewegten Bilder umgeht.
Rhetorik zwischen Wahrheit und Propaganda
Positionsmeldung in Selfie-Manier: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 8. März 2022 in Kiew © Getty Images / Anadolu Agency / Ukrainian Presidency
Das Handwerk der Glaubwürdigkeit
30:07 Minuten
Im Krieg wird nicht nur um Landgewinne erbittert gekämpft. Die Konfliktparteien ringen auch um Glaubwürdigkeit. Der Rhetorikprofessor Dietmar Till beobachtet, wie ein altes Handwerk dabei immer wieder neu interpretiert wird.
Ein Angriffskrieg, den der Angreifer verbietet, überhaupt "Krieg" zu nennen. Ein Präsident, der sich im Armee-T-Shirt per Videobotschaft mit eindringlichen Appellen an den Westen wendet. Mutmaßliche Kriegsverbrechen, welche die unter Verdacht stehende Kriegspartei als "Inszenierung" der Gegenseite bezeichnet.
Dekrete, keine Diskussionen
Im Krieg Russlands gegen die Ukraine greifen militärische Attacken und der gleichzeitig vor einer weltweiten Öffentlichkeit ausgetragene Kampf um Worte, um moralische Integrität und nicht zuletzt um Deutungshoheit eng ineinander. Rhetorik spielte in Kriegen immer wieder eine wesentliche Rolle, bestätigt Dietmar Till, der an der Universität Tübingen den Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik innehat. Das gelte spätestens seit den Anfängen einer Medienöffentlichkeit im heutigen Sinne.
Dabei träfen im Russland-Ukraine-Krieg zwei besonders ungleiche Kontrahenten aufeinander, gerade im Hinblick auf ihre Rhetorik und deren gesellschaftlichen Hintergrund. Ein "Überzeugungshandeln" als klassische Aufgabe der Rhetorik habe Wladimir Putin schlicht nicht nötig, so Till. Der Präsident des autokratisch geprägten Russland brauche keine Gremien zu überzeugen, sondern erlasse stattdessen Dekrete. Rhetorische Strategien verfolge er aber durchaus: Einen Angriffskrieg zur Verteidigung umzudeuten, entspreche einem altbekannten Muster.
Präsidialer Instinkt für Social Media
Demgegenüber verkörpert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj derzeit geradezu idealtypisch einen demokratisch geprägten Rhetor, der mit Verve und Wortgewalt für seine Sache wirbt. Selenskyj, der weltweit viel Anerkennung für sein Charisma und seine Glaubwürdigkeit erhält, bediene sich dabei souverän einer zeitgemäßen Social-Media-Ästhetik, die seine Auftritte besonders nahbar und authentisch erscheinen lasse, sagt Till. Sein Trick bestehe in einer "Inszenierung der Nichtinszenierung".
Rhetorik und Philosophie verbindet eine über 2000 Jahre währende Geschichte gegenseitigen Misstrauens, so Dietmar Till, der auf seinem Youtube-Kanal unter anderem auch eine ausführliche Einführung in die Rhetorik gibt. Schon Platon habe die Rhetorik der Lüge bezichtigt und im Widerspruch zu einer ernsthaften philosophischen Suche nach Wahrheit gesehen. Für den in Königsberg lehrenden Philosophen Immanuel Kant seien rhetorische Kniffe nicht einmal dann akzeptabel gewesen, wenn ihr Zweck über jeden Zweifel erhaben war. Und der deutsche Idealismus habe die Rhetorik gleich für zwei Jahrhunderte mit einem Bann belegt, weil jede Wahrheit schließlich ohne Tricks zum Ausdruck finde, wenn ein Genie sie nur aufrichtig genug empfinde.
Wahrheitsliebend oder weltfremd?
Besonnene Rhetoriker hätten solchen Ansichten schon immer entgegengehalten, dass ihnen ein realitätsfernes Menschenbild zugrundeliege, sagt Till. Der kompromisslose Anspruch, allein ein öffentliches Sprechen gutzuheißen, das konsequent auf Rationalität setzt und sich jeglicher Appelle an Affekte oder Stimmungen enthält, wie Immanuel Kant ihn einst vertreten habe, erscheine aus der Perspektive der Rhetorik einfach weltfremd: "Das kann sich ein Philosoph in Königsberg erlauben, aber ein Politiker in Kiew vermutlich nicht."
(fka)
Literatur zum Thema
Dietmar Till, Joachim Knape, Olaf Kramer (Hg.): "Populismus. Rhetorische Profile"
Attempto Verlag, Tübingen 2019
106 Seiten, 14,99
Johan Schloemann: "I have a dream. Die Kunst der freien Rede"
Verlag C.H. Beck, München 2019
288 Seiten, 24 Euro
Karl-Heinz Göttert: "Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik"
S. Fischer, Frankfurt am Main 2015
512 Seiten, 24,99 Euro