Rhetorisch aufgedonnert

In den Tagen, bevor sich die Berliner SPD zu einem Votum für die Ehrenbürgerschaft Wolf Biermanns durchrang, stieß ich in einem literarischen Stadtführer auf das Gedicht eines anderen ehemaligen DDR-Autors, der mittlerweile Direktor der Sektion Literatur der Berliner Akademie der Künste ist, die im letzten Jahr ihr Führungspersonal neu gewählt hat. Ich sah das Gedicht und erstarrte.
Es handelt sich um ein Gedicht von Volker Braun, in dem Biermann, ohne beim Namen genannt zu werden, erwähnt wird. Das Gedicht heißt "Die Mauer". Als ich es vor vielen Jahren zum ersten Mal las, dachte ich, dass es sich um eine der widerlichsten Hervorbringungen handele, die jemals im Gewand eines Gedichts aufgetreten sind, und als ich es jetzt noch einmal las, dachte ich das wieder. In diesem Gedicht hämmerte Volker Braun, der gelegentlich durchaus zu differenzieren verstand, die offiziellen Verlautbarungen der DDR-Staatsführung in Verse.

Damit war er, ob aus Opportunismus oder Überzeugung, ihr Lautverstärker. Was die Sache doppelt widerwärtig machte, bis heute macht (das Gedicht wird unverändert abgedruckt, Braun steht also zu seinem Inhalt), ist die Pose der Gewissensbefragung, in die er sich dabei wirft. Er tut, als wäge er Für und Wider der Todesgrenze ab, und gibt, nachdem er die Argumente seiner Staats- und Parteiführung wiederholt hat (rhetorisch aufgedonnert), das Ergebnis bekannt: Die Mauer ist nicht schön, aber notwendig. Zitat: "Schrecklich/hält sie, die steinerne Grenze/Auf was keine Grenze/Kennt: den Krieg." Das waren - geschönt - auch die Worte von Ulbricht und Honecker, mit denen sie die Welt über den Charakter der Mauer zu belügen versuchten. Der "antifaschistische Schutzwall" verhinderte den Krieg und hielt, so Braun "Im friedlichen Land… /die abhaun zu den Wölfen/Die Lämmer." Womit er alle, die – oft vor Bedrückung und Verfolgung – flohen, zu Dummköpfen erklärte, die vor sich selbst geschützt werden mussten: der Westen die Wolfsgesellschaft, die DDR das "friedliche Land".

Dass sie überhaupt auf die Idee kamen, es zu verlassen, lag nach Braun (wie nach Ulbricht und Honecker) an der Hetze der westlichen Massenmedien. Zitat: "Die hinter den Zeitungen/Anbelln den Beton und, besengt/Von den Sendern, sich aus dem Staub machen/ … oder am Stacheldraht/Unter Brüdern harfen und/Unter Kirchen scharrn Tunnel: die/blinden Hühner finden sich vor Kimme und Korn."

Schlimm? Ja. Nicht nur Kitsch (für die gebildeten Stände), sondern schlimm und zynisch: die Verhöhnung der Flüchtenden als historisch "blinde" Trottel, die sich nicht zu wundern brauchen, wenn sie abgeknallt werden; die höhnische Anspielung auf den aus seinem Land geworfenen Biermann, dessen erster Gedichtband, wie wir uns erinnern, Die Drahtharfe hieß; die Wiederholung des Revanchismus-Vorwurfs an den Westen, der zu den Standardvorwürfen der DDR-Oberen gehörte und den sich Braun zueigen machte, als er das Ende der Mauer am Sanktnimmerleinstag in Aussicht stellte: "Wenn sie nicht mehr/Abhaun mit ihrer Haut zum Markt/Zerhaut den Verhau./Wenn machtlos sind/die noch Grenzen ändern wollen." Als hätte nach Willy Brandts Ostpolitik noch ein einziger Westpolitiker eine Grenze ändern wollen. Das war an Klopstock geschultes Verdummungsgerede, Propaganda. Darf man so rangehen an ein Gedicht? Ja, man muss sogar, wenn man es ernst nimmt.

Laut Satzung hat die Akademie der Künste, in der Braun Direktor der Sektion Literatur ist, "die Aufgabe, (…) die Bundesländer in Angelegenheiten der Kunst und Kultur zu beraten". Wurde Braun in der Sache Biermann um Rat gefragt? Wenn: was mag er gesagt haben? Und was wäre sein Rat wert gewesen? Nichts. Nicht mehr als das Votum jener Partei, die sich als Nachfolgeorganisation der Biermann-Ausbürgerungspartei versteht und jetzt als Regierungskoalitionär die Macht hat, über Dinge zu entscheiden, über die ihr, da moralisch disqualifiziert, keine Entscheidung zusteht. Das Furchtbare ist, dass diese Leute für sich reden: Als Gefangene ihrer Irrtümer verteidigen sie, alt geworden, noch das Schändliche an ihren Lebensläufen und verlängern das Unrecht, von dem wir 1989 hofften, es sei zu Ende, in die Gegenwart.

Braun ist, wie er ist. Aber was ist mit denen, die ihn gewählt haben, die Akademiemitglieder, Sektion Literatur? Teilen sie die Braunsche Weltsicht? Ist seine Menschenverachtung auch ihre? Gibt sein Gedicht ihre Meinung wieder? Kennen sie es vielleicht gar nicht? Bei den ausländischen Mitgliedern mag das so sein. Die deutschen aber wussten, wes’ Geistes Kind das ist.

Wie heißt es bei Kafka? "Was ist das für Volk! Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?"


Gert Loschütz, geboren 1946 in Genthin (Sachsen-Anhalt). 1957 Übersiedlung mit den Eltern nach Dillenburg (Hessen). Von 1966 an Studium an der FU Berlin, daneben Arbeit als Verlagslektor. Seit 1970 freier Schriftsteller. Lebt in Berlin. Mitglied des P.E.N. und der Akademie für Darstellende Künste der Deutschen Schillerstiftung. Viele Hörspiele, Theaterstücke, Fernsehspiele und Bücher (u. a.): "Eine wahnsinnige Liebe." Novelle, 1984; "Das Pfennig-Mal. Die Geschichte von Tom Courteys Ehre und Benjamin Walz Schande." Erzählung ,1987; "Flucht." Roman, 1990; "Lassen Sie mich, bevor ich weiter muß, von drei Frauen erzählen." Geschichten, 1990; "Unterwegs zu den Geschichten." Erzählungen, 1990. "Dunkle Gesellschaft." Roman, 2005; "Die Bedrohung" , 2006.