Richard J. Bernstein: "Denkerin der Stunde. Über Hannah Arendt"
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
141 Seiten, 14 Euro
Die unheimliche Aktualität von Hannah Arendt
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Der amerikanische Philosoph J. Bernstein erklärt, warum wir Hannah Arendt heute lesen sollten. Dabei verwendet er auch historische Texte, die mit der Gegenwart eigentlich nicht vergleichbar sind.
Noch ein Buch über Hannah Arendt? Es gibt kaum ein Thema, das nicht schon mit Arendt verknüpft wurde: Konservativismus, Antisemitismus, Feminismus, Kolonialismus. Nahezu zu jeder aktuellen Diskussion wird ihr Werk herangezogen, manchmal mit ahistorischem Befremden, oft mit großer Bewunderung für diese ungewöhnliche Denkerin des 20. Jahrhunderts.
Den amerikanischen Philosophen Richard J. Bernstein hielt das nicht davon ab, ein weiteres Buch über sie zu schreiben. 1932 geboren, erklärt der Professor von der New Yorker New School for Social Research kurz und bündig, warum wir Arendt heute lesen sollten.
In jedem Bernstein stellt er eine ihrer zentralen Schriften vor und sucht nach Bezügen zur Gegenwart. Da geht es um Geflüchtete, Menschenrechte, öffentliches Lügen, um unser Politikverständnis und den Gemeinsinn in einer Demokratie.
Ein Problem, das uns heute noch plagt
Das stärkste Argument für die Aktualität ihrer Analysen sieht Bernstein in der sogenannten Flüchtlingskrise. Ungewöhnlich früh habe Arendt erkannt, "dass die stetig zunehmenden Kategorien und Zahlen staatenloser Personen und Flüchtlinge symptomatisch für die heutige Politik werden würde".
1943 veröffentlichte sie den Aufsatz "Wir Flüchtlinge", in dem sie die Schwierigkeiten der Emigration reflektiert, den Verlust von Beruf und Sprache, das Ankommen in einer fremden Heimat. Bernstein überfällt dabei ein "fast schon unheimliches Gefühl zeitgenössischer Relevanz": Alle Probleme, die Arendt hier thematisiere, plagten uns weiterhin. Bis heute würden Geflüchtete und Staatenlose als überflüssige, rechtlose Menschen behandelt.
Verdrehungen und Verkürzungen
So interessant es ist, historische Texte aus der Perspektive der Gegenwart zu lesen, so problematisch bleibt dieses Vorgehen in methodischer Hinsicht. Lässt sich das Schicksal einer jüdischen Intellektuellen, die vor den Nationalsozialisten fliehen musste, wirklich mit der heutigen Situation vergleichen, die doch ganz andere Ursachen hat und sich in einer grundlegend gewandelten Welt ereignet?
Bisweilen führt Bernsteins fast schon krampfhaftes Bemühen, Arendts Werk unbedingt anschlussfähig zu machen, zu Verdrehungen und Verkürzungen, die zeitgemäß klingen, aber den eigentlichen Sinn entstellen, wie etwa den von Arendts oft bemühtem Ausspruch: "Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen." Dieser Satz geht im Original noch weiter: Arendt beschwört hier keineswegs ein grenzenloses Widerstandsrecht, sondern bezieht sich auf Kant.
Das Böse ist banal
Leider räumt auch Bernstein mit solchen Irrtümern nicht auf, überzeugt jedoch in der klaren Verteidigung ihres Eichmann-Berichts, der ihr den Vorwurf eingehandelt hat, sie verharmlose den Nationalsozialismus und sei mit ihrer berühmten These von der "Banalität des Bösen" Adolf Eichmann auf den Leim gegangen. Zu Recht betont Bernstein, Arendts Ansatz besteche gerade dadurch, dass er das Böse nicht mythologisiert.
Dort, wo es nicht zu ahistorischen Aktualisierungen kommt, überzeugt sein kompaktes Überblickswerk, das vor allem für Leser geeignet ist, die mit Arendts Schriften nicht vertraut sind. Es zeigt aber auch, dass eines noch viel dringlicher geboten ist: ihre Bücher im Original und vollständig wiederzulesen.