Richard Price: "Die Unantastbaren"
Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015
432 Seiten, 24,99 Euro
Krimi mit hohen literarischen Ambitionen
Die Täter sind bekannt, konnten aber nie offiziell überführt werden. Sie sind "Die Unantastbaren" in Richard Price' gleichnamigen Kriminalroman. Plötzlich werden sie einer nach dem anderen ermordet, was mehrere Detectives beinahe in den Wahnsinn treibt.
Richard Price ist der Meister des dialektischen Kriminalromans. Bücher wie "Clockers" und "Cash", aber auch die preisgekrönte Fernsehserie "The Wire" zeichnen sich durch einen ständigen Perspektivwechsel aus, ein narratives Pingpong, in dem das Denken, Fühlen und Handeln der Täter ebenso großen Raum einnimmt wie die Ermittlungen der sie jagenden Detectives. Die 'Lösung' des Falls, der Fluchtpunkt des klassischen Kriminalromans, gerät folgerichtig zur Nebensache: Das Verbrechen ist für Price eher ein Vorwand für psychologische, soziologische und linguistische Tiefenbohrungen in New York und dem benachbarten New Jersey.
Price’ neuer Roman "Die Unberührbaren" macht da keine Ausnahme - und ist doch ganz anders. Der "split point-of-view" ist auch hier wieder das auffälligste erzählerische Merkmal, doch das allfällige Verbrechen, das dem Roman als Rückgrat dient, liegt nicht am Anfang der Erzählung, sondern an deren Ende; die "suspense" erwächst also aus der Frage, ob es überhaupt zur Tat kommen wird. Doch damit nicht genug: Neben diesem "crime in the making" geht es um fünf weitere Verbrechen, die tatsächlich weit zurückliegen, aber nie gesühnt wurden.
Die Täter sind bekannt (und werden auch gleich zu Beginn des Romans namentlich benannt), konnten aber nie offiziell überführt werden. Dies sind die "Unantastbaren", die dem Buch seinen Titel geben. Für Detective Billy Graves, den polizeilichen Protagonisten des Romans, und vier seiner ehemaligen Kollegen sind sie nichts weniger als Dämonen. Die Tatsache, dass sie als verantwortliche Ermittler die Täter nie ihrer gerechten Strafe zuführen konnten, lässt ihnen keine Ruhe. Bis die "Unberührbaren" plötzlich, einer nach dem anderen, von unbekannter Hand ermordet werden.
Man merkt: "Die Unberührbaren" ist kein Buch, das sich einfach so süffig weglesen lässt. Die Konstruktion ist kompliziert, das dramaturgische Knochengerüst schimmert manchmal durch, wird aber schnell wieder durch glänzende Dialoge und gestochen scharfe Vignetten aus dem Ermittlungsalltag kaschiert. Und: Es geht um die ganz großen Themen. Es geht um Schuld- und Rachegefühle, es geht um die Kluft zwischen Recht und Gerechtigkeit und die Frage, wie sie sich schließen lässt, ohne eine weitere Schuldspirale in Gang zu setzen, es geht um die Unfähigkeit zu vergessen und zu vergeben.
Cops wie Täter leiden unter Übergewicht und Alkoholismus
Diese Unfähigkeit lässt die Romanfiguren, im wahrsten Sinne des Wortes, beinahe platzen. Cops wie Täter fressen ihre Wut respektive Schuldgefühle in sich hinein, leiden unter Übergewicht und Alkoholismus, einer erleidet einen Magendurchbruch, und in einer zentralen Szene des Romans predigt Billy Graves 'seinem' persönlichen Unberührbaren aus dem Lukas-Evangelium: über den Mann, dessen Leib von so vielen Dämonen aufgebläht ist, dass er von sich selber sagt: "Mein Name ist Legion."
Eigentlich wollte Richard Price eigener Aussage zufolge einen schnörkellosen Cop-Roman schreiben und nahm sogar ein Pseudonym an, um sich von dem literarischen Erwartungsdruck zu befreien, der mit seinem Namen verbunden ist (in den USA erschien der Roman unter dem kuriosen Nicht-Pseudonym: "Richard Price Writing As Harry Brandt"). Das ist ihm nur teilweise gelungen: Die Handlung ist tatsächlich recht hard-boiled, Blutspuren ziehen sich durch New Yorker Subway-Stationen, Körper von Opfern zerplatzen mit lautem Knall auf innerstädtischen Autobahnen. Aber daneben steht ein Großstadtdschungel aus hochliterarischen Verweisen, von der Bibel über Dostojeswski bis zu Herman Melville (Im Original trägt das Buch, in Anspielung auf "Moby Dick", den Titel "The Whites": Billy Graves und seine Ex-Kollegen sind so besessen von ihren abgetauchten Unberührbaren wie Captain Ahab vom weißen Wal.)
Und auch die Sprache schlägt, von wenigen Abstürzen ins Klischee abgesehen, die gewohnten Price’schen Kapriolen: Ein Opfer häuslicher Gewalt trägt "eine Sepiakette von Fingerabdrücken um die Gurgel". Die Haut auf dem Brustkorb eines Ex-Athleten ist "so braun wie ein edler Kamelhaarmantel". Und über die Geräuschkulisse, die ein nächtlicher Auflauf von Schaulustigen verursacht, heißt es joyceanisch: "Geschnalz und Gemurmel kabbelten durch die Menge".
Bedauerlich ist nur, dass die Übersetzerin, die solche Metaphernpreziosen stilsicher ins Deutsche übertragen hat, an einigen Stellen beherzt ins falsche semantische Register greift: Afroamerikanische Gangster tragen ganz sicher keine "Perlenkette" um den Hals, und Baseballspieler keinen "Hut". Und wenn ein Bewohner der Bronx von seinem "Kiez" spricht, Polizisten "Keile" austeilen und verfeindete Straßengangs "Zoff" miteinander haben, fühlt man sich plötzlich ins Berliner Ganovenmilljöh der Zwanzigerjahre versetzt.