Richard Schuberth: "Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges"
Wallstein Verlag, Göttingen 2021
534 Seiten, 29,90 Euro
Banditen statt Bürger
06:12 Minuten
Der griechische Unabhängigkeitskrieg Anfang des 19. Jahrhunderts weckte Fantasien von einer Erneuerung der antiken Größe Griechenlands, die dann an der brutalen Realität zerschellten. Richard Schuberth erzählt fesselnd und hintergründig davon.
1821, vor genau zweihundert Jahren, begann in jenem Teil Europas, der sich heute Griechenland nennt, ein gnadenloses Gemetzel: der griechische Unabhängigkeitskrieg. Der Kampf richtete sich gegen die bröckelnde osmanische Herrschaft. Aber wer kämpfte da eigentlich gegen wen?
Mythen der Befreiung wissen das immer ganz genau. Wie kompliziert und verfahren die Lage aber tatsächlich war, macht der Historiker und Schriftsteller Richard Schuberth in seiner furiosen Darstellung dieses Krieges deutlich, dessen Resultate die Geschichte des 19. Jahrhunderts entscheidend mitbestimmten.
Glühende Griechenlandbegeisterung
Dieser Krieg war – vielleicht erstmals in der Geschichte – ein internationales Medienspektakel. Im europäischen Bildungsbürgertum entzündete er gesellschaftspolitische Freiheitsfantasien.
In Deutschland war die Griechen-Begeisterung von der Klassik an die Romantik weitergereicht worden. Deshalb konnte der Aufstand glühende Solidarität wecken; man glaubte an die Auferstehung des antiken Hellas. Professoren stachelten ihre Studenten zum Kampf auf, Unterstützungsvereine wurden gegründet. Viele junge Männer machten sich via Marseille auf den Weg zu den Inseln ihrer Griechenträume - die allerdings schnell zerplatzten angesichts der schockierenden Realität.
Das Narrativ des Befreiungsnationalismus passt für Schuberth nicht zu diesem Krieg. Es war noch nicht die Zeit, in der "Nationen" als natürlicher Aggregatzustand der Menschheit angesehen wurden. Das heutige südliche Griechenland hieß "Morea". Die meisten "Griechen wussten noch nicht einmal, dass sie Griechen waren", so Schuberth. Vielmehr lebte dort eine ethnisch stark gemischte Bevölkerung mit hohem slawisch-albanischen Anteil.
Ein Bürgertum war kaum entwickelt, dafür das Banditenwesen verbreitet. Im Krieg versuchten die "Kleften" und "Pelikaren" ihren Schnitt zu machen; die Mehrheit der Aufständischen rekrutierte sich aus dieser Brigantenschicht. Schuberth macht sehr deutlich, dass sich diese Männer nicht als "Sozialrebellen" verklären lassen. Es ging ihnen um Raub und lokale Macht.
"Griechische Befreiung" bedeutete vielfach die Lizenz zum Töten und Plündern. In vielen Städten und Dörfern wurde die muslimische Bevölkerung massakriert. Die bestialische Grausamkeit schockierte die idealistischen Philhellenen. "Niemals kamen Romantiker auf tragischere Weise zur Vernunft", schreibt Schuberth.
Der Dichter als Kriegsfürst
Lord Byron, der literarische Popstar des damaligen Europa, war der bekannteste Intellektuelle auf den Schlachtfeldern der Levante, und erhält deshalb einen prominenten Platz in diesem Kriegspanorama. Im Gegensatz zu den Philhellenen sah er die Griechen allerdings mit nüchternem Blick; weder idealisierte noch verteufelte er sie.
Für Schuberth ist Byron ein Knotenpunkt der Sehnsüchte und Widersprüche der Epoche. Wie kaum ein anderer Dichter betrieb er die Ästhetisierung der Politik und die Militarisierung der Poesie.
Am Ende befehligte er selbst eine Truppe von 300 verwegenen Kriegern, bevor er in Messolongi (vermutlich) an der Malaria und (ziemlich sicher) an den Aderlässen seines Arztes starb. Dass der Lord – im Gegensatz zu den meisten anderen Philhellenen – von den Griechen respektvoll behandelt wurde, hatte allerdings weniger mit seinem Dichterruhm zu tun als mit dem Umstand, dass er die Kriegskassen füllte.
Viele zukünftige Themen wie Orientalismus, Nationalismus, humanitärer Interventionismus und die eingreifende Wirkung von Medien wurden im griechischen Unabhängigkeitskrieg bereits bedeutsam. Richard Schuberth schildert ihn fesselnd, komplex und hintergründig. Und immer im Bewusstsein, dass sich diese "blutige Burleske der Verkennungen" eigentlich nur im Ton einer sarkastischen Farce erzählen lässt.