Richard Swartz: "Adressbuch - Geschichten aus dem finsteren Herzen Europas"

Vorgestellt von Jacqueline Boysen |
"Geschichten aus dem finsteren Herzen Europas" verheißt uns Richard Swartz in seinem neuen Bändchen und es ist kein Zufall, dass er sich auf einen Titel von Joseph Conrad bezieht, der einst vom "Herz der Finsternis" schrieb. Swartz appelliert mit seinen Geschichten an die Phantasie des Lesers - und wer keine Freude hat, in den modrigen Keller des alten Europa hinabzusteigen, in der Vergangenheit herumzuschnüffeln und den Schlüssel für das Verständnis der Gegenwart zu suchen, der sollte das kleine "Adressbuch" des einstigen Ost-Europa-Korrespondenten vom "Svenska Dagbladet" sofort aus der Hand legen.
Das Wort "Schicksalsdichte", mit dem Ralph Giordano die zusammen gewürfelte Gesellschaft in Israel einst beschrieb, kommt einem auch hier, angesichts der Geschichten aus dem alten Zentraleuropa in den Sinn: Der Episodenerzähler und Reportagenschreiber Swartz spürt anhand der Namen in seinen alten, überquellenden Adressbüchern Lebensgeschichten nach und findet die von politischen Verwerfungen Gebeutelten, Schicksale oder doch Spuren von Begegnungen in seiner Phantasie:

"Die wichtigsten Adressen sind jene, die nicht aufgeschrieben wurden, die nur in der Erinnerung notiert wurden. In Europa ist dieses Buch dick und mit schwarzer Tinte geschrieben. Mitunter lesen nicht wir die Adressen, sondern sie lesen uns. Sie halten uns fest in einer Geographie, die auf der Karte zu suchen sich nicht lohnt, und doch sind diese Adressen das einzige, worin wir jetzt zu Hause sind, auch wenn sie nicht mehr für ein Haus stehen, sondern in unserem Bewusstsein nur als ein Tonfall, eine Geste oder ein Schatten existieren. Einige davon werden und für immer festhalten: Mit Klauen, die sie in unser Fleisch geschlagen haben, Klauen, aus denen niemand sich befreien kann."

Swartz nimmt keinen Flug, er reist nicht nach Mittel- und Osteuropa, um die alten Angaben aus seinen vergilbten Adressverzeichnissen zu verifizieren oder gar zu aktualisieren – allein seine Erinnerung führt ihn über die verzeichneten Personen zu verschiedenen Orten zurück: In ein Wien, das beharrlich seine k. und k. -Geschichte kultiviert, in ein wahrhaft multikulturelles, aber menschlich kulturloses Studentenheim in Prag oder nach Schweden – in seine eigene Kindheit. An jenen Orten, bei jenen Menschen angekommen beschreibt Richard Swartz dem Leser zunächst Atmosphärisches. Das Alltägliche begegnet uns, das lässig dahingeworfene "Habe die Ehre" des abgehalfterten Walzertänzers, der vorgibt ein Prinz zu sein, die alptraumhaft verschmutzte Toilette der Studenten im zweiten Stock oder die immense Produktionssteigerung in der Stiefelmanufaktur des Großvaters. Was zunächst wie ein Gespräch unter Nachbarn im Hausflur anmutet, gewinnt an Fahrt und plötzlich wird offenkundig, wie allerkleinste Details europäische Geschichte widerspiegeln: Es sind Soldaten, die der Großvater mit seinen unverwüstlichen Stiefeln ausrüstet, in zwei Weltkriegen liegt sein Reichtum begründet.

"Wo immer deutsche Soldaten im Vormarsch waren, die Stiefel meines Großvaters waren auch dabei, obwohl er persönlich den Lesesessel und die Gesellschaft Thomas Manns vorzog. Mit Deutschlands Krieg hatte er nichts zu schaffen. Aber dieser Krieg hatte auch für einen schwedischen Schuhfabrikanten Verwendung, selbst wenn sein Land neutral blieb... Denn Europa brauchte Stiefel, keine Bücher oder Straßenschuhe, und mein Großvater versah den Kaiser mit seinen Stiefeln von prima Qualität. Trotzdem war seine Liebe zur Literatur so groß, dass er die feinsten Leder aus seiner Fabrik zum Binden seiner Bücher verwendete. Da standen sie in den schönsten Ganz- und Halbfranzbänden in den Regalen in seiner Bibliothek... während diejenigen, die in seinen Stiefeln marschieren mussten, wie die Fliegen starben und in namenlosen Soldatengräbern endeten."

Swartz Sprache mutet oftmals an, als hätte er sie an den Orten der Vergangenheit selbst aufgelesen, die im Alltagsgeschäft eher verluderte Form der Reportage erreicht bei ihm oft ungewohnte Tiefe. Ob der Wahrheitsgehalt der Episoden in jedem Fall journalistischen Ansprüchen genügt oder Historikern standhielte, das ist hier nicht relevant. Im Gegenteil, Swartz stellt die Überprüfbarkeit in der letzten und kunstvollsten Geschichte unter dem Titel In der Fremde selbst in Frage: Kantor Ernster sei er in Hermannstadt in Transsylvanien begegnet. Vielleicht war es auch Rabbi Ernster, keiner weiß es an diesem Ort, der so viel Namen trägt, wie er einst Minderheiten beherbergte. Ein Durcheinander - weniger in der Erinnerung des Spurensuchers als vielmehr in der rumänisch-ungarisch-österreichisch-deutschen Geschichte, die immer auch eine des europäischen Judentums und somit eine verwundete ist.

"War er wirklich Kantor? So wurde er ja genannt. Das heißt, er selbst nannte sich so: Kantor Ernster. Aber vielleicht nicht mir besseren Gründen als wenn ich behauptet hätte, er sei sterbenskrank gewesen. Die Leute nennen sich irgendwas und oft etwas, was sie nicht sind; sie schmücken sich mit Titeln und Hüten, auf die sie keinen Anspruch haben, und man .. kannte keinen Kantor mit dem Namen Ernster, ich habe mich erkundigt.
... Ein Ernster existierte nicht in den Archiven...
Oder gab es noch eine andere Möglichkeit? Etwas, was ich übersehen habe? Aber dass dieser Kantor Ernster sich sozusagen selbst erfunden hätte, halte ich nicht für glaubhaft. Dazu war er in seiner rein physischen Existenz allzu überzeugend, und auch wenn auch nicht alles überzeugte, was er sagte, so zumindest, wie er es sagte."
Swartz mangelt es indes weiter an Belegen für Kantor Ernsters pure Existenz. Schal der Nachgeschmack an ein Gespräch, Swartz rätselt ein bisschen, wobei seine sprachlichen Wendungen Thomas Bernhardtsche Qualität erreichen. Schließlich streicht er die ihm inzwischen fast lästige Erinnerung und indem er das tut, tilgt er gleichsam die letzte verbliebene Spur von Rabbi oder Kantor Ernster – ein dramatischer Augenblick in der Geschichte über einen verlorenen Menschen aus einer untergegangenen Welt, die allein in der Erinnerung weiterlebt.


Richard Swartz: Adressbuch - Geschichten aus dem finsteren Herzen Europas.
Aus dem Schwedischen von Verena Reichel
Carl Hanser Verlag München 2005