Richtig streiten

Dringend gesucht: das Verständnis füreinander

04:06 Minuten
Graffiti: Zwei Männer, beide mit einem Megafon bewaffnet, streiten sich.
Wie geht richtig streiten? Sich gegenseit mit Megafonen zu beschallen, ist vermutlich kaum ein fruchtbarer Weg. © picture alliance / Ikon Images / Roy Scott
Ein Einwurf von Jörg Phil Friedrich |
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Am Streit führt kein Weg vorbei, weder im Politischen noch im Privaten. Missverständnisse sind oft vorprogrammiert. Das liegt daran, dass im Streit nicht nur Argumente zählen: Die Beteiligten müssen das Gefühl haben, emotional wahrgenommen zu werden.
Es wird viel gestritten, Meinungen prallen aufeinander, in der politischen Debatte in den Talkshows und in der Familie genauso wie im Alltag. Wir streiten über unsere Ansichten zur Pandemieaufarbeitung, zum Krieg in der Ukraine, aber auch darüber, wo und wie wir im Alltag leben wollen, letztlich auch über Freunde, die wir treffen und Verwandte, die wir meiden wollen.
Man hört oft, dass der Meinungsstreit sachlicher werden müsse, dass Fakten und logische Argumentation dazu führen könnten, den Streit weniger heftig und unversöhnlich zu machen. Bloße Meinungen – so meint man – seien sozusagen die kleinen schmuddeligen Geschwister des Wissens, und es käme darauf an, das Wissen an die Stelle der Meinungen zu setzen, dann würde es keinen Grund mehr zum Streiten geben.
Aber das verkennt den Charakter der Meinungen, über die wir streiten müssen: Meinungen sind keine unsicheren Überzeugungen von Tatsachen. Vom Wissen unterscheidet sie, dass sie immer Hoffnungen und Ängste, Sorgen und Erwartungen enthalten. Sie sagen etwas darüber, wie das Leben sein sollte, um für mich oder dich lebenswert zu sein.

Die simplen Fakten sind oft unstrittig

Deshalb ist einer Meinung nicht mit bloßen Fakten beizukommen. Die simplen Fakten sind oft unstrittig, etwa, dass die letzten Jahre weltweit heißer waren als die vor ein paar Jahrzehnten oder dass die NATO sich in den letzten Jahren nach Osteuropa erweitert hat. Strittig ist, wie die Fakten zu einem Weltbild werden und was aus ihnen folgen sollte, wie sie zu bewerten sind. Und diese Fragen können nicht durch Tatsachen und formale Logik entschieden werden.
Ist der Meinungsstreit deshalb müßig? Keineswegs. Wir müssen aber zu einer neuen Logik des Streitens finden, wir müssen versuchen, Meinungen nicht als Denunziation oder als Mittel des Machtkampfes zu deuten, sondern als ehrlichen Versuch, Sorgen, Ängste und Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen auszudrücken.
Vorwürfe wie „Putin-Versteher“, „Corona-Leugner“, „Schlaf-Schaf“ oder „regierungsgläubig“ zu sein, sind weniger Angriffe auf den Anderen, als vielmehr hilflose Versuche, die eigenen Sorgen über das Geschehen zu formulieren.
Widersprüchlichkeiten in Meinungen müssen nicht kalt analysiert, sondern als Hinweise auf Widersprüche zwischen erhofftem Ideal und realem Weltbild verstanden werden. Jemand kann der Meinung sein, dass Politikern nicht zu trauen ist, und dennoch eine einzelne Politikerin hoch schätzen. Das klingt wie ein Widerspruch, sagt aber vor allem: "Ich misstraue diesen Leuten, aber ich halte es für möglich und hoffe eigentlich, dass sie auch ehrlich und klug agieren können."

Mit jeder Begründung wächst das Verständnis

Da die Meinungen, über die wir streiten, oft mit dem verbunden sind, was uns wichtig, lieb und teuer ist, verteidigen wir sie und geben sie nicht einfach auf. Das zu akzeptieren, ist der erste Schritt für einen guten Streit. Meinungen werden nicht einfach abgeworfen und durch andere ersetzt, sie werden vielleicht erschüttert, fragwürdig, und irgendwann ändert man selbst vielleicht die eigene Meinung.
Voraussetzung für einen gelungenen Meinungsstreit, der die Beteiligten ins Nachdenken bringt, ist die Bereitschaft, Meinungen zu begründen – sowohl hinsichtlich der Fakten, als auch hinsichtlich der Sorgen oder Hoffnungen, die man damit verbindet. Nicht jede Begründung wird für den anderen nachvollziehbar sein, aber mit jeder neuen Erklärung wächst Verständnis.
Verständnis füreinander zu bekommen, ist das eigentliche Ziel eines guten Streits - denn das ändert zwar nicht die Meinungen, aber es schließt die Risse, die das soziale Band zu zerreißen drohen.
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