Ein neues Betriebssystem für das Theater
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Das postdramatische Theater revolutionierte vor 20 Jahren die Bühne. Es stellte infrage, was als selbstverständlich galt: "Warum hängen da diese Scheinwerfer? Warum brüllt ihr die ganze Zeit so?" Ein Gespräch mit dem Mitgründer von Rimini Protokoll.
Vor 20 Jahren erschien Hans-Thies Lehmanns Buch "Das Postdramatische Theater". Seitdem kursiert der Begriff von der "Postdramatik", eine Idee, nach der das Drama nicht mehr die Norm eines Theaterabends sein muss. Viele Theatermacher, besonders der Freien Szene, sind davon inspiriert - wie das Theaterkollektiv Rimini Protokoll.
Alles ist Material
Es gibt nicht viele Begriffe, die einer einzigen Person zugeschrieben werden: Das Zauberwort der "Postdramatik" allerdings hängt ganz und gar fest am Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann. 20 Jahre ist es her, dass sein Buch mit dem Titel "Das postdramatische Theater" erschien. Gemeint war damit eine neue Theaterform - eine, die nicht auf das geschriebene Drama setzt, sondern bei der Texte auf Augenhöhe sind mit anderen Mitteln und Medien. Alles kann also Material sein.
Daniel Wetzel ist neben Helgard Haug und Stefan Kaegi Teil des Kollektivs Rimini Protokoll, das sich im selben Jahr gründete, in dem Lehmanns Buch erschien. Wetzel erinnert sich an die Debatten, die das Werk damals auslöste: "Es gab ein paar Medien, die haben diese Theaterform fast kategorisch ausgeschlossen. Gerhard Stadelmaier von der FAZ schrieb in Bezug auf die Gießener Schule vom 'Krebsgeschwür der Theaterszene'."
Dabei war besonders das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, 1982 von Andrej Wirth gegründet, eine Schule, die alle wichtigen Akteure des postdramatischen Theaters - von René Pollesch, She She Pop, Henrike Iglesias oder auch Rimini Protokoll - durchlaufen sind. "Ein Ort der Neugier": Hier in Gießen entstanden viele der Gruppen überhaupt erst, im gemeinsamen Suchen nach einem "neuen Betriebssystem für das Theater". Einem Theater ohne Hierarchien, mit gemeinsamen Ideen.
"Warum brüllt ihr die ganze Zeit so?"
Das schloss auch das Hinterfragen von ewig wiederholten Parametern des Schauspiels ein: "Warum hängen da diese Scheinwerfer? Warum brüllt ihr die ganze Zeit so? Was kann mit diesen Texten noch passieren und vor allem mit uns als Zuschauern? Wann werden wir als Produzenten von Inhalten ernst genommen?" Gedanken und Entwicklungen, die Hans-Thies Lehmann in seinem Buch bündelte, dabei aber auch einordnet "in den Umstand, dass das Drama (auch historisch) überhaupt nicht das Primat des Theaters ist", sondern sich eher durch das Fördern des bürgerlichen Sprechtheaters verengt hat.
"Uns war es immer wichtig", so Wetzel, "nicht als Amateurtheater, freie Theater oder so daherzukommen, sondern wir haben von vornherein gesagt: Es ist immer toll, wenn man mehr oder weniger parasitär die Schauspielhäuser und Staatstheater nutzen kann und von den Formen, die man erfindet, und den Dingen, die man zeigt, nicht nur behauptet, sondern auch denkt: Das ist gleichwertig! Damit besetzen wir diese Bühne, auf der normalerweise Schiller gespielt wird." Dazu laden Rimini Protokoll gern "Experten des Alltags" ein - die über verschiedene Phänomene aus unterschiedlichen Perspektiven sprechen.
Zum 20. Geburtstag zeigt Rimini Protokoll im kommenden Jahr noch einmal ein Panorama seiner Arbeiten in Berlin. Allen gemeinsam ist, dass es immer darum geht, "einerseits Dinge für die Bühne zu entdecken - und andererseits die Bühne woanders hinzutragen".
Der 20. Geburtstag des "Postdramatischen Theaters" wird in diesen Tagen in Berlin gefeiert: im Theater Hebbel am Ufer mit einem Festival sowie in der Akademie der Künste mit einem Symposium, an dem auch Daniel Wetzel teilnimmt.