Ringen um Emotionalität
Großmutter, Mutter, Tochter: Drei Frauengenerationen nimmt die Autorin in den Blick. Durch deren schwieriges Verhältnis wird diese "Chronik der Nähe" zu einer Chronik der unüberwindbaren Distanzen.
Familienromane sind en vogue. Familienromane verkaufen sich – zumindest wenn sie von Julia Franck oder Eugen Ruge stammen – gut, und weil dem so ist, entdecken nicht wenige Autoren mit einem Mal ihre Liebe zum Familienroman und schreiben munter Geschichten von Urahnen, deren Fotoalben und Erinnerungskladden sich überraschenderweise auf entlegenen Dachböden finden.
Die Freiburger Schriftstellerin Annette Pehnt indes steht nicht im Verdacht, sich in den Windschatten solcher Trends zu begeben, wenngleich ihr neuer, drei Generationen umfassender Roman auf den ersten Blick in dieses Raster zu passen scheint.
Sich von den Zwängen der Chronologie befreiend, fächert Annette Pehnt die Lebensgeschichten dreier Frauen auf. Die Jüngste verbringt – so der Rahmen des Romans – eine Woche am Krankenhausbett ihrer todkranken Mutter und hält dabei einen langen Monolog, der elementare Stationen aus dem Leben der Sterbenden und deren Mutter heraufbeschwört. Mit knappen Strichen wechselt Pehnt die Perspektiven, bettet die Frauenschicksale in ihren zeitgeschichtlichen Kontext ein und nährt die Vermutung, dass das, was die Familie belastet, viel mit den (Nach-) Kriegserfahrungen der Großmutter zu tun hat. Diese erweist sich, nachdem ihr deutlich älterer Mann früh stirbt, als Organisationsmeisterin und bringt, zuweilen mit unkonventionellen Methoden, sich und ihre Tochter Annie, die Mutter der Ich-Erzählerin, durch die schweren Zeiten. Annie wird, so der Fortgang des in viele Kleinkapitel untergliederten Romans, später als Übersetzerin arbeiten; ihre Tochter bringt es gar zu Promotionsehren.
Im Zentrum des Romans – sein Titel deutet es an – steht freilich das sich über alle Generationen erstreckende Ringen der Frauen um Nähe und Verständnis. Geredet wird dabei viel – "außer über die schlechten Dinge" –, und dennoch scheinen die dem Krieg geschuldeten emotionalen Verkarstungen auch bei den Nachgeborenen dafür zu sorgen, dass sich die ersehnte Nähe nie einstellt. Noch am Sterbebett der Mutter will die hochgradig angestrengt wirkende Erzählerin dieses Manko nicht wahrhaben, will Liebe im Nachhinein erzwingen und erinnert sich an die letzte, nach Rügen führende Reise mit der Mutter – an einen fehlgeschlagenen Versuch, das Mutter-Tochter-Verhältnis zu entspannen.
Annette Pehnt, die inzwischen als Spezialistin für Krankenhaus- und Heimszenerien gelten darf, schreibt in einem spröden Duktus, der die Suche nach Emotionen mit unterdrückter Emotionalität betreibt. Nur in wenigen Passagen – etwa als die Großmutter nach dem Krieg in ihrer Wohnung einen Mittagstisch für Berufstätige einrichtet – erhält der Roman eine warme Lebendigkeit. Die Qualität dieses kühlen Stils demonstriert anschaulich, woran es der Ich-Erzählerin gebricht: an tiefer Nähe zu den Menschen, denen sie immer sehr nahe sein wollte. So gesehen ist diese "Chronik der Nähe" nicht zuletzt eine Chronik der unüberwindbaren Distanzen.
Besprochen von Rainer Moritz
Annette Pehnt: "Chronik der Nähe"
Piper, München 2012
217 Seiten, 17,99 Euro
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Sich von den Zwängen der Chronologie befreiend, fächert Annette Pehnt die Lebensgeschichten dreier Frauen auf. Die Jüngste verbringt – so der Rahmen des Romans – eine Woche am Krankenhausbett ihrer todkranken Mutter und hält dabei einen langen Monolog, der elementare Stationen aus dem Leben der Sterbenden und deren Mutter heraufbeschwört. Mit knappen Strichen wechselt Pehnt die Perspektiven, bettet die Frauenschicksale in ihren zeitgeschichtlichen Kontext ein und nährt die Vermutung, dass das, was die Familie belastet, viel mit den (Nach-) Kriegserfahrungen der Großmutter zu tun hat. Diese erweist sich, nachdem ihr deutlich älterer Mann früh stirbt, als Organisationsmeisterin und bringt, zuweilen mit unkonventionellen Methoden, sich und ihre Tochter Annie, die Mutter der Ich-Erzählerin, durch die schweren Zeiten. Annie wird, so der Fortgang des in viele Kleinkapitel untergliederten Romans, später als Übersetzerin arbeiten; ihre Tochter bringt es gar zu Promotionsehren.
Im Zentrum des Romans – sein Titel deutet es an – steht freilich das sich über alle Generationen erstreckende Ringen der Frauen um Nähe und Verständnis. Geredet wird dabei viel – "außer über die schlechten Dinge" –, und dennoch scheinen die dem Krieg geschuldeten emotionalen Verkarstungen auch bei den Nachgeborenen dafür zu sorgen, dass sich die ersehnte Nähe nie einstellt. Noch am Sterbebett der Mutter will die hochgradig angestrengt wirkende Erzählerin dieses Manko nicht wahrhaben, will Liebe im Nachhinein erzwingen und erinnert sich an die letzte, nach Rügen führende Reise mit der Mutter – an einen fehlgeschlagenen Versuch, das Mutter-Tochter-Verhältnis zu entspannen.
Annette Pehnt, die inzwischen als Spezialistin für Krankenhaus- und Heimszenerien gelten darf, schreibt in einem spröden Duktus, der die Suche nach Emotionen mit unterdrückter Emotionalität betreibt. Nur in wenigen Passagen – etwa als die Großmutter nach dem Krieg in ihrer Wohnung einen Mittagstisch für Berufstätige einrichtet – erhält der Roman eine warme Lebendigkeit. Die Qualität dieses kühlen Stils demonstriert anschaulich, woran es der Ich-Erzählerin gebricht: an tiefer Nähe zu den Menschen, denen sie immer sehr nahe sein wollte. So gesehen ist diese "Chronik der Nähe" nicht zuletzt eine Chronik der unüberwindbaren Distanzen.
Besprochen von Rainer Moritz
Annette Pehnt: "Chronik der Nähe"
Piper, München 2012
217 Seiten, 17,99 Euro
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