Ringbuch der Geseker Landfrauen

Wie eine Rezeptesammlung zum Bestseller wurde

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Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt drei der Geseker Landfrauen mit mehreren Stapeln von Päckchen und Rezeptbüchern vor sich.
Die Rezeptesammlung der Geseker Landfrauen war eigentlich nur für den Weihnachtsmarkt im Jahr 1982 gedacht. Inzwischen wurde sie etwa 900.000 Mal verkauft. © privat
Von Kathryn Kortmann |
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Es ist eine märchenhafte Geschichte aus vordigitaler Zeit: Westfälische Landfrauen fügen ihre Rezepte zu einem Ringbuch zusammen - und die Nachfrage ist grenzenlos. Mit den Bestseller-Erlösen werden sie nicht reich, sondern Spendenmillionärinnen.
Weihnachtsmarkt im westfälischen Geseke. Irgendwo eröffnet ihn der Bürgermeister mit einer kleinen Ansprache, doch kaum jemand scheint ihm zuzuhören. Die Aufmerksamkeit des Publikums gilt nur dem kleinen Verkaufsstand der Geseker Landfrauen. Im Angebot haben sie lediglich ein einziges Produkt: einen weinroten Ringordner mit Koch- und Backrezepten auf 484 Seiten.
Ein Jahr lang haben sie in ihrer Freizeit daran gearbeitet, ihre erprobten Rezepte auf zartgelbes DIN A-5-Papier von Hand niedergeschrieben, die Seiten selbst kopiert, gelocht und geheftet – 2.000 Mal. Ein durch und durch handgemachtes Werk. Computer hatte man damals noch nicht.
Das mulmige Gefühl, mit dem Hildegard Hille und ihre Mitstreiterinnen im Jahr 1982 den Weihnachtsmarktstand bezogen, ist ihr noch gut in Erinnerung: “Wir haben nicht damit gerechnet, dass die 2.000 Bücher weggehen. Die haben sich förmlich gedrängt.” Sie sagt:
“Wir haben irgendwann gesagt, mein Gott, geht zurück, ihr drückt die Leute ja vorne tot vor der Theke, so schlimm war das doch dann. Die waren so ruckzuck weg, dass wir nur noch die nächsten Tage Gutscheine ausgegeben haben, dass sie sie zu Weihnachten dann noch hatten.”

Geseker Landfrauen hatten Tag und Nacht zu tun

Ausverkauft binnen kürzester Zeit. Was dann folgte, war für die Geseker Frauen alles andere als eine besinnliche Adventszeit. Statt Plätzchenbacken oder Weihnachtsdeko-Basteln hieß es nun, in Windeseile in Tag- und Nachtarbeit von Hand Kochbücher zu produzieren, damit die Gutscheine noch vor Weihnachten gegen die begehrten Rezept-Kladden eingetauscht werden konnten: “Wir mussten die ja anfangs alle, die Blätter, mit Hand hintereinanderlegen … Aber irgendwie hat es allen Spaß gemacht, die waren alle voll bei der Sache.”
Die Freude darüber ist den Geseker Landfrauen auch fast 40 Jahre später noch anzumerken. Bei Kaffee und Quark-Mandarinenkuchen, natürlich nach erprobter Rezeptur aus ihrer Koch- und Back-Kladde, blicken die damalige 1. Vorsitzende Elisabeth Engels, ihre Stellvertreterin Christa Ebers, Kassiererin Hildegard Hille und Landfrau Christa Schulte gemeinsam zurück auf die fantastische Geschichte ihres Kochbuchs, die in Elisabeth Engels ihren Ursprung hat:

“Wir saßen alle zusammen und wir haben mal wieder Rezepte ausgetauscht beim Kaffeetrinken und da hab ich gesagt: Sollen wir uns nicht mal zusammensetzen und ein Kochbuch zusammenstellen?”

Abwaschbar und nach Hausfrauenlogik sortiert

Das wäre doch eine Idee für die Menschen in der Umgebung, dachte Engels. “Erst guckten alle skeptisch, sollen wir es machen, sollen wir es nicht machen? Ja, doch, machen wir, versuchen wir. Und unsere Mitglieder haben wir zusammengetrommelt, die waren so um die 40, 45, die zur Versammlung gekommen sind. Und dann habe ich das vorgetragen und alle waren hellauf begeistert.”
Ob für Vorspeisen, Haupt- und Zwischengerichte, für Salate, Kuchen, Brot oder Gebäck, für Getränke, Eingemachtes oder Schlachtgerichte: Mit ihren zusammengetragenen Rezepten deckten die Landfrauen nahezu jede Kategorie nachkochbarer Küche ab.
Von der Ananas-Weinbrand-Creme über indische Krüstchen, Landhauspfanne, Laucheintopf und Teebowle mit Früchten bis zum Zwiebeltopf: Die Rezepte sind weder ausschließlich typisch westfälisch noch selbst erdachte exquisite Rezepturen. Sie sind eine bunte Sammlung dessen, was zu Beginn der 1980er-Jahre in Geseker Kochtöpfen brutzelte und schmorte und zu unterschiedlichsten Gelegenheiten auf dem Tisch landete.

Manchmal 500 Bestellungen pro Tag

Selbst erdacht war dagegen die neuartige Aufmachung im abwaschbaren Ringordner. Und: Die Rezepte waren immer so angeordnet, dass die Seiten nicht mit schmutzigen Fingern umgeblättert werden mussten. Konzipiert von praktischen Hausfrauen, die jeden Tag in der Küche standen, und gedacht für Frauen in Geseke und Umgebung.
“Ich habe in einem Rezept geschrieben, da werden ungespritzte Zitronen gebraucht, da habe ich in Klammern dahinter geschrieben, gibts immer bei Münstermann, Völmeder Straße”, erzählt Hille. “Ja, ich konnte doch nicht ahnen, dass das nach Frankfurt und sonst wo geht.”
Was niemand für möglich gehalten hätte: Die Nachfrage war auch nach Feiertagen und Jahreswechsel ungebrochen. Und sie nahm nicht ab. Mitte der 1980er-Jahre kamen manchmal 500 Bestellungen pro Tag, allein 300 davon nahm Elisabeth Engels telefonisch entgegen.
Sie erinnert sich noch gut an die Zeit, als ihr Alltag und der ihrer Familie durch die Nachfrage aus den Fugen geraten ist:

“Ich habe kein Essen fertig gekriegt. Ich habe nur Adressen aufgeschrieben.”

Elisabeth Engels

Die Kinder hätten die Päckchen packen müssen, der ganze Flur habe vollgestanden. “Die Post, die haben extra einen für uns eingestellt. Der Briefträger kam mit einem großen Auto und holte uns jeden Tag die Post hier ab.”

Anfangs sorgten noch Artikel in der Lokalpresse und vor allem Mund-zu-Mund-Propaganda für die große Nachfrage, erzählt Christa Ebers:

“Das war immer ein schönes Geschenk. Das war nicht zu teuer und ein Kochbuch konnte ja immer jemand gebrauchen.” Die ganze Familie sei beschenkt worden. “Und wenn man irgendwohin ging, die nahmen alle ein Kochbuch mit”. So sei das Ringbuch in die Städte gekommen und habe sich herumgesprochen. “So ist das dann auch ins Rollen gekommen.”

"Roter Renner" wird zum Verkaufsschlager

Berichte in Funk und Fernsehen heizten den Hype noch einmal kräftig an. So wurde die Rezeptsammlung für den westfälischen Provinz-Weihnachtsmarkt 1982 bekannt und berühmt und zum Bestseller. Die erprobten Rezepte wurden weltweit versandt, bis nach Australien und Südamerika.

„Roter Renner“ und „Ein Kochbuch reist um die Welt“ – so lauteten Presseschlagzeilen. Bald war klar, dass die Landfrauen diesen Run auf ihr Kochbuch nicht mehr allein in ihrer Freizeit bewältigen konnten.
Drei ältere Damen sitzen an einem Tisch und packen Ringbücher in Pakete.
Die Geseker Landfrauen haben viele Tage und Nächte zusammengesessen, um die "Hexenkochbücher" zusammenzustellen und zu verpacken.© privat
Und so griff die Lippstädter Lebenshilfe für Behinderte den Frauen unter die Arme, sortierte die Berge von Rezeptblättern und übernahm den Versand. Die Bestellungen landeten weiter bei Elisabeth Engels, telefonisch oder per Post.

“Die Post, die sie uns geschickt haben, die war ja wirklich interessant”, sagt Hildegard Hille. “Hier hat einer geschrieben, seine Frau wäre ihm weggelaufen und er versuchte, sich jetzt selbst zu ernähren, aber immer nur Spiegeleier, das hielt selbst der Verliebteste nicht aus. Wir sollten so schnell wie möglich das Kochbuch schicken.”

Erlös von mehr als zwei Millionen Euro gespendet

Seit 1982 haben die Geseker Landfrauen ihr Koch- und Backbuch 900.000 Mal verschickt. Es wurde zu einem Bestseller, der den Geseker Landfrauenverein hätte reich machen können. Aber die Frauen haben selbst keinen Cent daran verdient. Statt Millionärinnen sind sie Spendenmillionärinnen geworden. Von den 15 D-Mark, später dann acht Euro, die die Rezeptsammlung kostete, flossen 5 D-Mark beziehungsweise 2,50 Euro wohltätigen Zwecken zu. Mehr als zwei Millionen Euro sind so über die Jahre zusammengekommen. Unterstützt wurden zum Beispiel:

“Josefshaus Lipperode, Blindenheim Detmold, Wohnheim Behinderte Schloss Neuhaus, Welthungerhilfe, Malteserhilfsdienst, katholischer Männerverein Lippstadt betreutes Wohnen, Krankenhaus Geseke, Behindertensportverein in Hamm, Verein für Hörgeschädigte …”, zählt Engels auf.

Die Liste ließe sich noch lange weiterführen. Mit ihrer Hilfe entstanden Arbeitsplätze in karitativen Einrichtungen, ein Wohnheim der Lebenshilfe und sogar eine vierbändige Ausgabe ihres Kochbuchs in Blindenschrift.

Bundesverdienstkreuz für Elisabeth Engels

Neben viel ehrenamtlicher Arbeit hat den Landfrauen ihr Engagement auch viel Ehre eingebracht. Stellvertretend für ihren Verein wurde Initiatorin Elisabeth Engels mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande und dem Ehrenring der Stadt Geseke ausgezeichnet. Am wichtigsten ist den inzwischen betagten Frauen bis heute jedoch, was dieses Kochbuch für ihre Gemeinschaft bedeutet hat. Christa Schulte sagt:

“Wir halten fest zusammen. Das war ein Projekt, das wurde von den Landfrauen gestartet. Und dann konnten wir uns ja nicht die Blöße geben, dass das nicht klappte. Also mussten wir alle ran. Das haben wir mit Freude gemacht. Und das war dann hinterher auch ein ganz tolles Wirgefühl und Gemeinschaftsgefühl.”

Das über die Jahre gehalten hat, sagt Schulte. Eine neue Auflage wird es nach 39 Jahren nun nicht mehr geben. Der handgemachte Bestseller aus dem vordigitalen Zeitalter taucht inzwischen auch im Internet auf und wird unter Kleinanzeigen gehandelt. Elisabeth Engels, Christa Ebers und Hildegard Hille kochen auch heute noch gerne nach den „erprobten Rezepten“ – nicht nur, aber auch zur Weihnachtszeit.
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