Risiko im Kaukasus
In Russland leben Menschenrechtler gefährlich: Bis auf weiteres hat die Organisation Memorial die Arbeit in Tschetschenien eingestellt, nachdem in nur einem Monat drei ihrer Mitarbeiter erschossen wurden - unter ihnen die Journalistin Natalja Estemirowa.
Im Zentrum Moskaus demonstrieren Menschenrechts-Gruppen für Natalja Estemirowa. Die 50-jährige ehemalige Geschichtslehrerin und Journalistin wurde Mitte Juli in ihrer Heimatstadt Grosny entführt und Stunden später in einem Wald erschossen aufgefunden. Mehr als hundert Menschen haben sich rund um das Denkmal des Schriftstellers Gribojedow auf dem grünen Mittelstreifen des Boulevards versammelt. Polizisten mit der Aufschrift "Omon" auf dem Rücken der grün gefleckten Uniformjacken wachen über die Ordnung.
Wenige Gehminuten entfernt liegt die Miljutin-Gasse, eine ruhige Straße mit grauen Bürohäusern, Restaurants und Wohnungen, die wegen ihrer zentralen Lage ein Vermögen kosten. Das Menschenrechtszentrum der Internationalen Gesellschaft Memorial hat in dieser Gasse sein Büro - unter dem Dach eines bewachten Forschungsinstituts, dessen gelb gestrichene Fassade bröckelt. Das Institut vermietet Räume an verschiedene Organisationen, um seine Finanzen aufzubessern. Eine solche Tarnadresse bietet Memorial in Zeiten wie diesen in Russland einen gewissen Schutz. Denn das Menschenrechtszentrum arbeitet, auch wenn es das herunterspielt, mit einem erheblichen Risiko. Der Wächter am Eingang des Instituts ist höflich.
Der Weg zu Memorial führt durch einen langen dunkeln Korridor über eine ausgetretene Steintreppe in den zweiten Stock ins Zimmer Nummer 42. Die Tür ist unverschlossen, Besucher sind willkommen.
Es ist eng hier. Im Flur sitzt die Sekretärin am Schreibtisch, mit Blick auf die Eingangtür. Sie schreibt, telefoniert und ordnet dann Papier in dicke Aktenordner ein. Ab und zu steht sie auf, um Tee zu kochen.
Auf der einen Seite des Flures liegen die Büro-Zimmer. Zwei, drei Mitarbeiter und Praktikanten teilen sich einen Raum. Es geht zu wie im Taubenschlag: Sitzungen, Diskussionen ohne Ende.
Auf dem Schreibtisch des Memorial-Direktors Oleg Orlow stapeln sich Bücher, Akten und Papiere. Mitarbeiter verlassen nach einer Arbeitsrunde den Raum. Orlow, ein zierlicher Mann mit grau gewordenem Bärtchen, ist von Beruf Biologe und hat einst im Institut für Physiologie der Pflanzen gearbeitet. 1988 schloss er sich der Gesellschaft Memorial an. Ein Jahr zuvor hatte eine Gruppe von liberalen Intellektuellen, unter ihnen auch der Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow, Memorial gegründet. Auch Orlow hat in der Sowjetunion in Opposition zum Regime gestanden. Sein Blick streift in die Ferne, als er sich an jene Zeit erinnert. Gleichsam ein innerer Dissident sei er gewesen, sagt er und lächelt. Wie so viele der damaligen Intelligenz.
"Zu einer gewissen Zeit habe ich einige Male Flugblätter hergestellt und sie aufgeklebt. Ich habe das allein, ohne eine Gruppe getan, für mich selbst. Es waren Flugblätter zum Krieg der Sowjetunion in Afghanistan und über die Bewegung Solidarnosc in Polen, als dort Kriegsrecht herrschte. Ende 1990 wurde ich Leiter des Wahlstabes des Bürgerrechtlers Sergej Kowaljow, auch ein Biologe. Er zog als Abgeordneter in den Obersten Sowjet ein und hat gesagt, Oleg, jetzt gibt es eine, wahrscheinlich nicht lange Zeit, in der wir was erreichen und verändern können. Er wurde Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Menschenrechte und ich war sein wichtigster Spezialist."
Seit 1993 arbeitet Oleg Orlow hauptamtlich für Memorial. Zusammen mit seinem Kollegen Alexander Tscherkassow, einem ehemaligen Kernphysiker, leitet er viele Jahre lang die Tätigkeiten des Menschenrechtszentrums in Krisengebieten - an Brennpunkten, wie er es ausdrückt. Dabei geht es um Monitoring, also Dauerbeobachtung, von Menschenrechtsverletzungen, aber auch um Schutz und juristische Beratung von Opfern in Gebieten, in denen es bewaffnete Konflikte gegeben hat, noch gibt oder wo welche zu erwarten sind.
Die Hauptarbeit leistet Memorial seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 im russischen Nordkaukasus - Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan und Kabardino-Balkarien. In Tschetschenien ist das Engagement von Nichtregierungsorganisationen inzwischen besonders gefährlich. Am 11. August dieses Jahres wurden die Leiterin einer Hilfsorganisation für Kinder, Sarema Sadulajewa, und ihr Ehemann in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny aus ihrem Büro entführt und wenig später erschossen. Drei Wochen vorher hatte die langjährige Mitarbeiterin von Memorial in Grosny, Natalja Estemirowa, das gleiche Schicksal getroffen. Ihren Tod kommentierte Oleg Orlow auf einer Pressekonferenz in Moskau:
"Man hat nicht nur unsere Kollegin und Kameradin umgebracht, sondern einen uns verwandten Menschen. Man fragt uns, wer hat die Schuld an diesem Mord? Ich kenne den Namen dieses Mannes, kenne seine Funktion. Er heißt Ramzan Kadyrow und ist der Präsident von Tschetschenien."
Orlow wirft Kadyrow vor, dass er in Tschetschenien Bedingungen geschaffen hat, unter denen Gesetzlosigkeit, Gewalt und Straffreiheit gedeihen. Menschen werden entführt, gefoltert und getötet. Es ist sogar möglich, sie in den Dörfern vor aller Augen öffentlich hinzurichten.
"Und zweitens ist er schuldig, weil wegen seiner Politik in Tschetschenien Menschenrechtler mit Terroristen gleichgesetzt worden sind. Sie werden Teufel genannt, wie die Terroristen auch. Er und seine Leute werfen uns mit Terroristen in einen Topf. Einer von Kadyrows engsten Mitstreitern, Adam Delimchanow, sagt, wer Terroristen hilft, wer mit ihnen sympathisiert oder sie auch nur in Gedanken unterstützt, den vernichten wir. Das sind seine Worte. Daraus kann dann jeder tschetschenische Polizist folgern: Man darf Menschenrechtler umbringen."
Der russische Präsident Dmitrij Medwedew hat sich im Fall Estemirowa doppeldeutig verhalten. Zunächst verurteilte er die Tat und schickte ein persönliches Beileidstelegramm an den Leiter des Memorial-Büros in Grosnyj. Darin heißt es:
"Ich bin tief erschüttert vom grausamen Mord an der bekannten Menschenrechtlerin Estemirowa. Dieses Verbrechen wird auf die gründlichste Weise untersucht und die Verbrecher werden bestraft."
Wenig später stellte er sich jedoch hinter Kadyrow und gab ihm einen Freibrief: Kadyrow trage keinerlei Schuld an dem Verbrechen. Kadyrow reagierte auf diese Worte umgehend: Er reichte bei einem Moskauer Stadtgericht Klage gegen Orlow und Memorial ein. Versuche des Innenministeriums, ihn davon abzubringen, schlugen fehl, Kadyrow blieb hart. Bei dem Gerichtsverfahren geht es um den vermeintlichen Tatbestand der Verleumdung einer Amtsperson im Falle einer angeblich von ihr begangenen Straftat. Darauf stehen drei Jahre Freiheitsentzug.
In einer zweiten Klage verlangt der tschetschenische Präsident die Wiederherstellung seiner angeblich verletzten Ehre und Würde. Als Schadensersatz fordert er von Orlow und Memorial eine Geldstrafe von insgesamt zehn Millionen Rubel ein, das sind umgerechnet rund 230.000 Euro. Oleg Orlow und sein Stellvertreter Alexander Tscherkassow arbeiten im Mordfall Estemirowa mit den Ermittlern zusammen und sind bereit, als Zeugen vor Gericht auszusagen. Auch das passt vielen nicht. Deshalb werden die beiden Männer in Moskau schikaniert.
So versuchten etwa Anfang September Unbekannte, die sich als Steuerfahnder ausgaben, Zutritt zu den Wohnungen der beiden zu erlangen, augenscheinlich, um deren Privatsphäre auszuspionieren. Ende August ist Tscherkassow, Vater von vier Kindern, zum zweiten Mal in anderthalb Monaten nach Tschetschenien gereist. Der stattliche Mann mit dem Vollbart und den listigen Augen strahlt große Ruhe aus. Dass auch er sich jedes Mal in Tschetschenien einem Risiko aussetzt, ist für ihn kein Thema:
"Völlig zufällig habe ich erfahren, dass es eine reale, eine tödliche Gefahr gibt für einige meiner Kollegen, die dort arbeiten. Deshalb musste ich mir vor Ort ein Bild davon verschaffen, wie groß das Maß der Gefahr für unsere Leute dort ist und wie man mit dieser Gefahr umgeht. Wir haben mehr als zwei Dutzend Mitarbeiter dort unten."
In Tschetschenien agieren seit zehn Jahren schon föderale und lokale Todesschwadronen, sagt Tscherkassow, doch eine Jagd auf Menschenrechtler hat es früher nicht gegeben.
"Wenn die Gefahr von nur einer einzigen Person ausginge … aber sie geht von all denen aus, die jene Verbrechen ausführen, über die meine Kollegen und Kolleginnen berichten. Ein Rechtsanwalt bearbeitet etwa einen solchen Verbrechensfall. Das bedeutet dann für diejenigen, die das Leben anderer bedrohen, die Leute entführen und ermorden, das Risiko, entdeckt zu werden. Deshalb wird ihnen dieser Anwalt gefährlich: Man muss ihn aus dem Weg räumen."
Die russische Gesellschaft ist heute in einer anderen Lage als die sowjetische Gesellschaft es war, sagt Tscherkassow:
"Zur Sowjetzeit gab es eine Macht, die Druck auf die Gesellschaft ausübte und nur eine Antwort verlangte. Heute wird unsere Gesellschaft von zwei Seiten bedrängt - von den Machthabern und von einem realen terroristischen Untergrund. Er versucht, der Gesellschaft seine Werte aufzuzwingen."
Oleg Orlow sitzt am Schreibtisch nebenan und hat Tscherkassow aufmerksam zugehört. Er pflichtet seinem Kollegen bei. Der Estemirowa-Mord hat eine Vorgeschichte, erzählt er. Der Leiter des Memorial-Büros in Grosny, Schamchan Akbulatow, sei Anfang Juli 2009 zu Kadyrows Beauftragtem für Menschenrechte, Nurdi Nuchadschijew, bestellt worden.
"Der sagte uns, Sie müssen Ihren Arbeitsstil ändern. Veröffentlichen Sie nichts von dem, was Sie erfahren, sondern übergeben Sie alles Kadyrow persönlich. So etwas hat man uns immer wieder mal vorgeschlagen. Aber die Drohung, wir sollten unseren Arbeitstil ändern oder es werde etwas sehr Schlechtes geschehen - die gab es früher nicht. In der Woche nach diesem Treffen wurde dann Natascha Estemirowa ermordet."
Der Mord hat bei Memorial zu einer Diskussion geführt, ob Mitarbeiter, die sich selbst in hohem Maße gefährden, mit ihrem Verhalten nicht auch ihre Kollegen in Lebensgefahr bringen. So hat Natalja Estemirowa auf Wunsch von Memorial im vergangenen Jahr eine gewisse Zeit im Ausland verbracht. Doch dann hielt sie es in London nicht mehr aus und kehrte zurück. Vor drei Jahren wurde ihre Freundin und Kollegin Anna Politkowskaja - auch sie eine Tschetschenien-Spezialistin - in Moskau erschossen.
Alexander Tscherkassow: "Mehr als die Hälfte der Politkowskaja-Artikel über Tschetschenien, vielleicht noch mehr, sind aufgrund von Estemirowas Informationen entstanden. Wenn Politkowskaja in Grosny war, hat sie bei Estemirowa gewohnt. Politkowskaja hat das aber nicht publik gemacht, weil sie den Grad der Gefahr für ihre Kollegin begriffen hat. Als Estemirowa von London nach Tschetschenien zurückkehrte, begann sie, etwa für die Zeitung 'Nowaja Gazeta', Artikel zu veröffentlichten, auch unter ihrem eigenen Namen. Weniger als ein Jahr später wurde sie ermordet. Sie versuchte, als freier Mensch in einem unfreien Land zu leben. In diesem Sinne hat sie wie eine Dissidentin gehandelt."
Memorial hat seine direkte Arbeit in Tschetschenien auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Noch schreiben die Memorial-Mitarbeiter nahezu täglich ihre Monitoring-Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und versenden sie per E-Mail. Doch diese Arbeit ist nach dem Rückzug der Organisation aus Tschetschenien schwieriger geworden. Davon überzeugt sich auch Jens Siegert, der ab und zu das Menschenrechtszentrum besucht. Er leitet seit mehr als zehn Jahren das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen in Moskau. Die Stiftung ist seit langer Zeit einer der wichtigsten westlichen Partner und Sponsoren der Internationalen Gesellschaft Memorial, zu der auch das Menschenrechtszentrum gehört.
"Es war ein sehr großer Vorteil von Memorial, dass sie vor Ort waren, dass sie die Informationen, die sie bekommen haben, überprüfen konnten. Es wird in den Monitoring-Berichten nie etwas veröffentlicht, weil jemand gekommen ist und hat gesagt, ich habe gesehen, das und das ist passiert. Dann sind immer Leute rausgegangen und haben nachgefragt, hast du das auch gesehen? Was ist dort passiert? Das ist aber gerade das Gefährliche an der Arbeit gewesen."
Dem stimmt Tscherkasseow zu und nennt die Gründe für den Rückzug Memorials aus Tschetschenien. Als Kernphysiker habe er einst mit gefährlichen Dingen zu tun gehabt. Doch verglichen damit sei die Gefahr für seine Kollegen in Tschetschenien heute viel größer:
"Der Hauptschutz gegen Radioaktivität sind nicht Beton und Blei, es ist der Schutz von Zeit und Entfernung. Also: sich möglichst kurz der Strahlungsquelle aussetzen und sich ansonsten möglichst weit entfernt von ihr aufhalten. Einen solchen Schutz gibt es für die Menschenrechtler in Tschetschenien nicht. Wer dort wohnt, muss dort blieben."
Memorial hofft, in nicht allzu weiter Zukunft seine wichtige Arbeit in Tschetschenien fortsetzen zu können. Doch dafür bedarf es wohl einiger Sicherheitsgarantien, nicht zuletzt vom tschetschenischen Präsidenten persönlich.
Wenige Gehminuten entfernt liegt die Miljutin-Gasse, eine ruhige Straße mit grauen Bürohäusern, Restaurants und Wohnungen, die wegen ihrer zentralen Lage ein Vermögen kosten. Das Menschenrechtszentrum der Internationalen Gesellschaft Memorial hat in dieser Gasse sein Büro - unter dem Dach eines bewachten Forschungsinstituts, dessen gelb gestrichene Fassade bröckelt. Das Institut vermietet Räume an verschiedene Organisationen, um seine Finanzen aufzubessern. Eine solche Tarnadresse bietet Memorial in Zeiten wie diesen in Russland einen gewissen Schutz. Denn das Menschenrechtszentrum arbeitet, auch wenn es das herunterspielt, mit einem erheblichen Risiko. Der Wächter am Eingang des Instituts ist höflich.
Der Weg zu Memorial führt durch einen langen dunkeln Korridor über eine ausgetretene Steintreppe in den zweiten Stock ins Zimmer Nummer 42. Die Tür ist unverschlossen, Besucher sind willkommen.
Es ist eng hier. Im Flur sitzt die Sekretärin am Schreibtisch, mit Blick auf die Eingangtür. Sie schreibt, telefoniert und ordnet dann Papier in dicke Aktenordner ein. Ab und zu steht sie auf, um Tee zu kochen.
Auf der einen Seite des Flures liegen die Büro-Zimmer. Zwei, drei Mitarbeiter und Praktikanten teilen sich einen Raum. Es geht zu wie im Taubenschlag: Sitzungen, Diskussionen ohne Ende.
Auf dem Schreibtisch des Memorial-Direktors Oleg Orlow stapeln sich Bücher, Akten und Papiere. Mitarbeiter verlassen nach einer Arbeitsrunde den Raum. Orlow, ein zierlicher Mann mit grau gewordenem Bärtchen, ist von Beruf Biologe und hat einst im Institut für Physiologie der Pflanzen gearbeitet. 1988 schloss er sich der Gesellschaft Memorial an. Ein Jahr zuvor hatte eine Gruppe von liberalen Intellektuellen, unter ihnen auch der Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow, Memorial gegründet. Auch Orlow hat in der Sowjetunion in Opposition zum Regime gestanden. Sein Blick streift in die Ferne, als er sich an jene Zeit erinnert. Gleichsam ein innerer Dissident sei er gewesen, sagt er und lächelt. Wie so viele der damaligen Intelligenz.
"Zu einer gewissen Zeit habe ich einige Male Flugblätter hergestellt und sie aufgeklebt. Ich habe das allein, ohne eine Gruppe getan, für mich selbst. Es waren Flugblätter zum Krieg der Sowjetunion in Afghanistan und über die Bewegung Solidarnosc in Polen, als dort Kriegsrecht herrschte. Ende 1990 wurde ich Leiter des Wahlstabes des Bürgerrechtlers Sergej Kowaljow, auch ein Biologe. Er zog als Abgeordneter in den Obersten Sowjet ein und hat gesagt, Oleg, jetzt gibt es eine, wahrscheinlich nicht lange Zeit, in der wir was erreichen und verändern können. Er wurde Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Menschenrechte und ich war sein wichtigster Spezialist."
Seit 1993 arbeitet Oleg Orlow hauptamtlich für Memorial. Zusammen mit seinem Kollegen Alexander Tscherkassow, einem ehemaligen Kernphysiker, leitet er viele Jahre lang die Tätigkeiten des Menschenrechtszentrums in Krisengebieten - an Brennpunkten, wie er es ausdrückt. Dabei geht es um Monitoring, also Dauerbeobachtung, von Menschenrechtsverletzungen, aber auch um Schutz und juristische Beratung von Opfern in Gebieten, in denen es bewaffnete Konflikte gegeben hat, noch gibt oder wo welche zu erwarten sind.
Die Hauptarbeit leistet Memorial seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 im russischen Nordkaukasus - Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan und Kabardino-Balkarien. In Tschetschenien ist das Engagement von Nichtregierungsorganisationen inzwischen besonders gefährlich. Am 11. August dieses Jahres wurden die Leiterin einer Hilfsorganisation für Kinder, Sarema Sadulajewa, und ihr Ehemann in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny aus ihrem Büro entführt und wenig später erschossen. Drei Wochen vorher hatte die langjährige Mitarbeiterin von Memorial in Grosny, Natalja Estemirowa, das gleiche Schicksal getroffen. Ihren Tod kommentierte Oleg Orlow auf einer Pressekonferenz in Moskau:
"Man hat nicht nur unsere Kollegin und Kameradin umgebracht, sondern einen uns verwandten Menschen. Man fragt uns, wer hat die Schuld an diesem Mord? Ich kenne den Namen dieses Mannes, kenne seine Funktion. Er heißt Ramzan Kadyrow und ist der Präsident von Tschetschenien."
Orlow wirft Kadyrow vor, dass er in Tschetschenien Bedingungen geschaffen hat, unter denen Gesetzlosigkeit, Gewalt und Straffreiheit gedeihen. Menschen werden entführt, gefoltert und getötet. Es ist sogar möglich, sie in den Dörfern vor aller Augen öffentlich hinzurichten.
"Und zweitens ist er schuldig, weil wegen seiner Politik in Tschetschenien Menschenrechtler mit Terroristen gleichgesetzt worden sind. Sie werden Teufel genannt, wie die Terroristen auch. Er und seine Leute werfen uns mit Terroristen in einen Topf. Einer von Kadyrows engsten Mitstreitern, Adam Delimchanow, sagt, wer Terroristen hilft, wer mit ihnen sympathisiert oder sie auch nur in Gedanken unterstützt, den vernichten wir. Das sind seine Worte. Daraus kann dann jeder tschetschenische Polizist folgern: Man darf Menschenrechtler umbringen."
Der russische Präsident Dmitrij Medwedew hat sich im Fall Estemirowa doppeldeutig verhalten. Zunächst verurteilte er die Tat und schickte ein persönliches Beileidstelegramm an den Leiter des Memorial-Büros in Grosnyj. Darin heißt es:
"Ich bin tief erschüttert vom grausamen Mord an der bekannten Menschenrechtlerin Estemirowa. Dieses Verbrechen wird auf die gründlichste Weise untersucht und die Verbrecher werden bestraft."
Wenig später stellte er sich jedoch hinter Kadyrow und gab ihm einen Freibrief: Kadyrow trage keinerlei Schuld an dem Verbrechen. Kadyrow reagierte auf diese Worte umgehend: Er reichte bei einem Moskauer Stadtgericht Klage gegen Orlow und Memorial ein. Versuche des Innenministeriums, ihn davon abzubringen, schlugen fehl, Kadyrow blieb hart. Bei dem Gerichtsverfahren geht es um den vermeintlichen Tatbestand der Verleumdung einer Amtsperson im Falle einer angeblich von ihr begangenen Straftat. Darauf stehen drei Jahre Freiheitsentzug.
In einer zweiten Klage verlangt der tschetschenische Präsident die Wiederherstellung seiner angeblich verletzten Ehre und Würde. Als Schadensersatz fordert er von Orlow und Memorial eine Geldstrafe von insgesamt zehn Millionen Rubel ein, das sind umgerechnet rund 230.000 Euro. Oleg Orlow und sein Stellvertreter Alexander Tscherkassow arbeiten im Mordfall Estemirowa mit den Ermittlern zusammen und sind bereit, als Zeugen vor Gericht auszusagen. Auch das passt vielen nicht. Deshalb werden die beiden Männer in Moskau schikaniert.
So versuchten etwa Anfang September Unbekannte, die sich als Steuerfahnder ausgaben, Zutritt zu den Wohnungen der beiden zu erlangen, augenscheinlich, um deren Privatsphäre auszuspionieren. Ende August ist Tscherkassow, Vater von vier Kindern, zum zweiten Mal in anderthalb Monaten nach Tschetschenien gereist. Der stattliche Mann mit dem Vollbart und den listigen Augen strahlt große Ruhe aus. Dass auch er sich jedes Mal in Tschetschenien einem Risiko aussetzt, ist für ihn kein Thema:
"Völlig zufällig habe ich erfahren, dass es eine reale, eine tödliche Gefahr gibt für einige meiner Kollegen, die dort arbeiten. Deshalb musste ich mir vor Ort ein Bild davon verschaffen, wie groß das Maß der Gefahr für unsere Leute dort ist und wie man mit dieser Gefahr umgeht. Wir haben mehr als zwei Dutzend Mitarbeiter dort unten."
In Tschetschenien agieren seit zehn Jahren schon föderale und lokale Todesschwadronen, sagt Tscherkassow, doch eine Jagd auf Menschenrechtler hat es früher nicht gegeben.
"Wenn die Gefahr von nur einer einzigen Person ausginge … aber sie geht von all denen aus, die jene Verbrechen ausführen, über die meine Kollegen und Kolleginnen berichten. Ein Rechtsanwalt bearbeitet etwa einen solchen Verbrechensfall. Das bedeutet dann für diejenigen, die das Leben anderer bedrohen, die Leute entführen und ermorden, das Risiko, entdeckt zu werden. Deshalb wird ihnen dieser Anwalt gefährlich: Man muss ihn aus dem Weg räumen."
Die russische Gesellschaft ist heute in einer anderen Lage als die sowjetische Gesellschaft es war, sagt Tscherkassow:
"Zur Sowjetzeit gab es eine Macht, die Druck auf die Gesellschaft ausübte und nur eine Antwort verlangte. Heute wird unsere Gesellschaft von zwei Seiten bedrängt - von den Machthabern und von einem realen terroristischen Untergrund. Er versucht, der Gesellschaft seine Werte aufzuzwingen."
Oleg Orlow sitzt am Schreibtisch nebenan und hat Tscherkassow aufmerksam zugehört. Er pflichtet seinem Kollegen bei. Der Estemirowa-Mord hat eine Vorgeschichte, erzählt er. Der Leiter des Memorial-Büros in Grosny, Schamchan Akbulatow, sei Anfang Juli 2009 zu Kadyrows Beauftragtem für Menschenrechte, Nurdi Nuchadschijew, bestellt worden.
"Der sagte uns, Sie müssen Ihren Arbeitsstil ändern. Veröffentlichen Sie nichts von dem, was Sie erfahren, sondern übergeben Sie alles Kadyrow persönlich. So etwas hat man uns immer wieder mal vorgeschlagen. Aber die Drohung, wir sollten unseren Arbeitstil ändern oder es werde etwas sehr Schlechtes geschehen - die gab es früher nicht. In der Woche nach diesem Treffen wurde dann Natascha Estemirowa ermordet."
Der Mord hat bei Memorial zu einer Diskussion geführt, ob Mitarbeiter, die sich selbst in hohem Maße gefährden, mit ihrem Verhalten nicht auch ihre Kollegen in Lebensgefahr bringen. So hat Natalja Estemirowa auf Wunsch von Memorial im vergangenen Jahr eine gewisse Zeit im Ausland verbracht. Doch dann hielt sie es in London nicht mehr aus und kehrte zurück. Vor drei Jahren wurde ihre Freundin und Kollegin Anna Politkowskaja - auch sie eine Tschetschenien-Spezialistin - in Moskau erschossen.
Alexander Tscherkassow: "Mehr als die Hälfte der Politkowskaja-Artikel über Tschetschenien, vielleicht noch mehr, sind aufgrund von Estemirowas Informationen entstanden. Wenn Politkowskaja in Grosny war, hat sie bei Estemirowa gewohnt. Politkowskaja hat das aber nicht publik gemacht, weil sie den Grad der Gefahr für ihre Kollegin begriffen hat. Als Estemirowa von London nach Tschetschenien zurückkehrte, begann sie, etwa für die Zeitung 'Nowaja Gazeta', Artikel zu veröffentlichten, auch unter ihrem eigenen Namen. Weniger als ein Jahr später wurde sie ermordet. Sie versuchte, als freier Mensch in einem unfreien Land zu leben. In diesem Sinne hat sie wie eine Dissidentin gehandelt."
Memorial hat seine direkte Arbeit in Tschetschenien auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Noch schreiben die Memorial-Mitarbeiter nahezu täglich ihre Monitoring-Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und versenden sie per E-Mail. Doch diese Arbeit ist nach dem Rückzug der Organisation aus Tschetschenien schwieriger geworden. Davon überzeugt sich auch Jens Siegert, der ab und zu das Menschenrechtszentrum besucht. Er leitet seit mehr als zehn Jahren das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen in Moskau. Die Stiftung ist seit langer Zeit einer der wichtigsten westlichen Partner und Sponsoren der Internationalen Gesellschaft Memorial, zu der auch das Menschenrechtszentrum gehört.
"Es war ein sehr großer Vorteil von Memorial, dass sie vor Ort waren, dass sie die Informationen, die sie bekommen haben, überprüfen konnten. Es wird in den Monitoring-Berichten nie etwas veröffentlicht, weil jemand gekommen ist und hat gesagt, ich habe gesehen, das und das ist passiert. Dann sind immer Leute rausgegangen und haben nachgefragt, hast du das auch gesehen? Was ist dort passiert? Das ist aber gerade das Gefährliche an der Arbeit gewesen."
Dem stimmt Tscherkasseow zu und nennt die Gründe für den Rückzug Memorials aus Tschetschenien. Als Kernphysiker habe er einst mit gefährlichen Dingen zu tun gehabt. Doch verglichen damit sei die Gefahr für seine Kollegen in Tschetschenien heute viel größer:
"Der Hauptschutz gegen Radioaktivität sind nicht Beton und Blei, es ist der Schutz von Zeit und Entfernung. Also: sich möglichst kurz der Strahlungsquelle aussetzen und sich ansonsten möglichst weit entfernt von ihr aufhalten. Einen solchen Schutz gibt es für die Menschenrechtler in Tschetschenien nicht. Wer dort wohnt, muss dort blieben."
Memorial hofft, in nicht allzu weiter Zukunft seine wichtige Arbeit in Tschetschenien fortsetzen zu können. Doch dafür bedarf es wohl einiger Sicherheitsgarantien, nicht zuletzt vom tschetschenischen Präsidenten persönlich.