Risikoforschung

Falsche Ängste

Ein Mann raucht eine Zigarette.
Statistisch gesehen sterben viel mehr Menschen durchs Rauchen als durch Unfälle. © picture alliance / dpa / Daniel Bockwoldt
Von Johannes Kaiser |
Wir sollten uns nicht vor Unfällen oder Überfällen fürchten, sondern vielmehr vor Krebs und Herz-Kreislauferkrankungen. Daran sterben statistisch gesehen viel mehr Menschen. Der Forscher Ortwin Renn geht in "Das Risikoparadox" diesen Wahrnehmungsphänomenen auf den Grund.
Die meisten Menschen haben Angst vor Giftstoffen in Lebensmitteln, viele fürchten sich vor Überfällen, andere vor Unfällen. Doch was die Menschen wirklich bedroht, das nehmen sie kaum wahr. Mehr noch: Sie scheinen blind für die tatsächlichen Risiken des Lebens. Davon jedenfalls ist Ortwin Renn überzeugt.
Zu viel Alkohol, falsche Ernährung und mangelnde Bewegung
Der Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung der Universität Stuttgart befasst sich hauptberuflich mit menschlichen Ängsten und zeigt: In vielen Fällen widersprechen die gefühlten Ängste der Statistik. So sterben die meisten Menschen an Krebs und Herz-Kreislauferkrankungen, ausgelöst durch Rauchen, zu viel Alkohol, falsche Ernährung und mangelnde Bewegung und nicht etwa bei einem Unfall.
Die meisten Menschen haben große Schwierigkeiten, die echten Gefahren zu erkennen, so Ortwin Renn in seinem überraschenden Buch. Das liegt zum größten Teil an einer selektiven Wahrnehmung von Informationen. Man glaubt, was die eigene Position stärkt. Wer raucht, sieht zum Beispiel im Vielraucher Helmut Schmidt einen Garanten dafür, dass man auch als Raucher sehr alt werden kann. Auch lassen sich viele Menschen von Statistiken täuschen oder sich von Medienberichten verunsichern: Sie meiden dann zum Beispiel Fisch, weil der Quecksilber enthalten soll, und essen stattdessen Steak – was gesundheitlich auch riskant ist.
Die Schwierigkeit, systemische Risiken zu erkennen
Ortwin Renn erläutert seine Thesen anhand zahlloser Beispiele. Für den eiligen Leser zieht er jeweils am Ende seiner vier umfangreichen Kapitel ein Fazit, das die wichtigsten Aussagen noch einmal knapp zusammenfasst. Es fällt angenehm auf, dass er viele soziologische Begriffe ausführlich erklärt. Das erhöht das Verständnis. Der Risikoforscher zeigt insbesondere, dass Menschen allgemein große Schwierigkeiten haben, systemische Risiken zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren. Sie sind zu komplex und liegen ihre Folgen in weiter Zukunft, dann scheinen sie uninteressant.
Auch deshalb lassen zum Beispiel der Klimawandel, das Artensterben oder die Ressourcenverknappung viele von uns unberührt. Und selbst wenn man sie als Risiko erkennt, verhält man sich oft so, als könne man nichts ändern. Doch das ist ein Trugschluss, so der Autor in seinem Schlusskapitel. Die Bedrohungen sind weder apokalyptisch noch unvermeidbar und man kann durchaus handeln, wenn man drei Kernbotschaften berücksichtig: Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit aller Systeme erhöhen.
Lebensqualität wichtiger als der Lebensstandard
Das heißt zum Beispiel für die Ernährung statt auf wenige Hochleistungssorten zu setzen viele weniger ertragreiche Sorten behalten. Ebenso wichtig ist soziale Gerechtigkeit, weil die Gesellschaft sonst auseinanderfliegt. Und drittens ist Lebensqualität wichtiger als der Lebensstandard. All dies könnte das Modell einer ökosozialen Marktwirtschaft erfüllen, die gegen die tatsächlichen Risiken gewappnet wären. Sie erfordert keine Revolution, sondern nur Reformen. Was Ortwin Renn vorstellt, ist eine erfüllbare Vision.

Ortwin Renn: Das Risikoparadox
S. Fischer, Frankfurt/Main 2014
608 Seiten, 14,99 EUR