Risikoreiches Leben
Der Baseler Wissenschaftler Michael Hampe philosophiert in seinem Buch geistreich über den Zufall und fragt nach seiner Bedeutung für das Leben. Er geht zugleich der Frage nach, warum eigentlich der "Verlust von Macht" als Mangel empfunden wird.
Der Zufall hat keinen guten Leumund. Er wird gefürchtet als das Gegenteil des Geplanten. Selbst der glückliche Zufall hinterlässt Unbehagen: Wie der unglückliche hat er ein Vorhaben zerstört. Also sorgt der Mensch vor und erfindet Theorien, die alle möglichen Fälle (auch Zufälle) erklären, Techniken, die ohne eigene Zufälligkeiten Probleme dauerhaft lösen, und Religionen, die alle Ereignisse als Fügungen deuten sollen. Es sind sämtlich menschliche Machtphantasien, entstanden aus Todesangst, meint der Baseler Philosoph Michael Hampe in seinem Essay "Die Macht des Zufalls". Er versucht, den Zufall zu rehabilitieren und fragt nach seiner Bedeutung für das Leben.
Dass die Welt dem Menschen teilnahmslos gegenübersteht, dass Ereignisse sich beziehungslos ereignen, ist eine ungeheure Kränkung und gefährlich. Doch die Konstruktion eines Wesens, eines ewigen oder eines unantastbaren Inneren ist eine Täuschung, meint Hampe. Denn unser Leben verändert uns dauernd. Wer geheiratet hat, wer im Krieg oder im Konzentrationslager war, ist ein anderer Mensch geworden, als er vorher war. Zufälle sind nicht zu vermeiden: Was wäre gewesen, wenn ich an jenem Abend etwas anderes getan hätte? Wenn sich meine Eltern nicht getroffen hätten? Doch auch wenn mein Leben nicht in allen Punkten von mir geplant worden ist, es bleibt mein Leben. Ich muss über die Zufälle nachdenken, sie erinnern und erzählen. Es mögen Zufälle sein, aber das macht mein Leben nicht bedeutungslos. Die Zufälle müssen gedeutet und erzählt werden, was mich verändert und der Welt und ihrer Ordnung etwas Neues hinzufügt. Der gedeutete Zufall wird Teil einer Biografie, einer Ordnung.
Für Hampe ist der Zufall, nicht das Naturgesetz und die Kontinuität Charakteristikum der Welt. In mehreren Anläufen, mit vielen Geschichten aus Wissenschaft und Literatur von Homer, Stanislaw Lem, Friedrich Dürrenmatt und Elias Canetti zeigt er, dass die Dinge nicht miteinander zusammenhängen. Der Glaube an den allgegenwärtigen Kausalnexus sei der Aberglaube, zitiert er Ludwig Wittgenstein. Dabei wird die Technik dank ihrer Komplexität selbst zum "Zufallsgenerator". Die Wissenschaft hofft – Hampe nennt sie daher fundamentalistisch – auf die Weltformel, mit deren Hilfe alles erklärt werden kann; gegenwärtig melden die Neurowissenschaftler am lautesten solche Ansprüche an.
Unser Bild von der Welt baut auf dem Regelmäßigen und Wiederkehrenden auf, weil, so Hampe, Wahrnehmung und Beschreibungssysteme selbst regelmäßig sind und das Neue zunächst nicht erfassen können. Was sich erhält und wiederholt, erscheint als vollkommen, vollständig und geordnet "allein deshalb, weil es sich wiederholt und den Hintergrund für etwas abgibt, was von ihm abweicht." Das Regellose und Zufällige gilt als unvollkommen und geistlos. Aber: "Ist ein Berg vollkommener als ein Blitz?" Das Zufällige und Neue bricht in Technik oder Kunst kein Gesetz oder keine Regel, es folgt der Vorschrift auf eine bisher unbekannte Weise und zeigt einen Raum der Freiheit. In der Literatur müsse der Autor der Sprache dafür Eigenmächtigkeit zugestehen, also den Zufall zulassen. Der Gegensatz von Gesetz und Zufall, so Hampe, sei historisch neu: Die alten Griechen kannten die "ananke", den Zwang ohne Absicht: etwas geschieht, gegen das nichts auszurichten ist.
Wer sein Leben durchplant, wirkt seelenlos; wer es geschehen lässt, haltlos. Mit deutlichen Bezügen zur Lebensphilosophie eines Georg Simmel plädiert Michael Hampe für eine Haltung der Offenheit und eine Kunst des Erzählens, die zwischen Plan und Zufall vermittelt. Dass er immer wieder vom Tod spricht, diesem sicheren Zufall, lässt den anregenden Essay wie ein Vademecum in Zeiten des Terrors wirken. In den achtziger Jahren warnte Ulrich Beck mit dem Begriff "Risikogesellschaft" vor den unkalkulierbaren globalen Risiken der atomaren und chemischen Großtechnologie, der Gentechnik und der Rüstungsproduktion. Ein Risiko geht man ein, eine Gefahr ist unausweichlich. Gegen die aktuelle Gefahr hilft, so scheint es, nur ein gelassener Blick auf die eigene Existenz.
Von Jörg Plath
Michael Hampe:
Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko.
wjs Verlag, 224 Seiten
Dass die Welt dem Menschen teilnahmslos gegenübersteht, dass Ereignisse sich beziehungslos ereignen, ist eine ungeheure Kränkung und gefährlich. Doch die Konstruktion eines Wesens, eines ewigen oder eines unantastbaren Inneren ist eine Täuschung, meint Hampe. Denn unser Leben verändert uns dauernd. Wer geheiratet hat, wer im Krieg oder im Konzentrationslager war, ist ein anderer Mensch geworden, als er vorher war. Zufälle sind nicht zu vermeiden: Was wäre gewesen, wenn ich an jenem Abend etwas anderes getan hätte? Wenn sich meine Eltern nicht getroffen hätten? Doch auch wenn mein Leben nicht in allen Punkten von mir geplant worden ist, es bleibt mein Leben. Ich muss über die Zufälle nachdenken, sie erinnern und erzählen. Es mögen Zufälle sein, aber das macht mein Leben nicht bedeutungslos. Die Zufälle müssen gedeutet und erzählt werden, was mich verändert und der Welt und ihrer Ordnung etwas Neues hinzufügt. Der gedeutete Zufall wird Teil einer Biografie, einer Ordnung.
Für Hampe ist der Zufall, nicht das Naturgesetz und die Kontinuität Charakteristikum der Welt. In mehreren Anläufen, mit vielen Geschichten aus Wissenschaft und Literatur von Homer, Stanislaw Lem, Friedrich Dürrenmatt und Elias Canetti zeigt er, dass die Dinge nicht miteinander zusammenhängen. Der Glaube an den allgegenwärtigen Kausalnexus sei der Aberglaube, zitiert er Ludwig Wittgenstein. Dabei wird die Technik dank ihrer Komplexität selbst zum "Zufallsgenerator". Die Wissenschaft hofft – Hampe nennt sie daher fundamentalistisch – auf die Weltformel, mit deren Hilfe alles erklärt werden kann; gegenwärtig melden die Neurowissenschaftler am lautesten solche Ansprüche an.
Unser Bild von der Welt baut auf dem Regelmäßigen und Wiederkehrenden auf, weil, so Hampe, Wahrnehmung und Beschreibungssysteme selbst regelmäßig sind und das Neue zunächst nicht erfassen können. Was sich erhält und wiederholt, erscheint als vollkommen, vollständig und geordnet "allein deshalb, weil es sich wiederholt und den Hintergrund für etwas abgibt, was von ihm abweicht." Das Regellose und Zufällige gilt als unvollkommen und geistlos. Aber: "Ist ein Berg vollkommener als ein Blitz?" Das Zufällige und Neue bricht in Technik oder Kunst kein Gesetz oder keine Regel, es folgt der Vorschrift auf eine bisher unbekannte Weise und zeigt einen Raum der Freiheit. In der Literatur müsse der Autor der Sprache dafür Eigenmächtigkeit zugestehen, also den Zufall zulassen. Der Gegensatz von Gesetz und Zufall, so Hampe, sei historisch neu: Die alten Griechen kannten die "ananke", den Zwang ohne Absicht: etwas geschieht, gegen das nichts auszurichten ist.
Wer sein Leben durchplant, wirkt seelenlos; wer es geschehen lässt, haltlos. Mit deutlichen Bezügen zur Lebensphilosophie eines Georg Simmel plädiert Michael Hampe für eine Haltung der Offenheit und eine Kunst des Erzählens, die zwischen Plan und Zufall vermittelt. Dass er immer wieder vom Tod spricht, diesem sicheren Zufall, lässt den anregenden Essay wie ein Vademecum in Zeiten des Terrors wirken. In den achtziger Jahren warnte Ulrich Beck mit dem Begriff "Risikogesellschaft" vor den unkalkulierbaren globalen Risiken der atomaren und chemischen Großtechnologie, der Gentechnik und der Rüstungsproduktion. Ein Risiko geht man ein, eine Gefahr ist unausweichlich. Gegen die aktuelle Gefahr hilft, so scheint es, nur ein gelassener Blick auf die eigene Existenz.
Von Jörg Plath
Michael Hampe:
Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko.
wjs Verlag, 224 Seiten