Rita Indiana: Tentakel
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
Wagenbach Verlag, Berlin 2018
160 Seiten. 18,00 Euro
Unlogisch, aber wunderbar kühn
Santo Domingo in der Karibik im Jahr 2024: Die 16-jährige Acilde träumt davon, ein Mann zu werden. Doch Geistliche haben ihr einen anderen Lebensweg vorausgesagt - "Tentakel" erzählt eine kühne, fantasievolle Geschichte mit Parallelen zum aktuellen karibischen Alltag.
Rita Indiana ist ein dominikanisches Phänomen: Sie hat als Komponistin und Sängerin den traditionellen karibischen Merengue völlig neu interpretiert, sich öffentlich als Lesbe geoutet und als Autorin Bücher geschrieben, die Genregrenzen überschreiten als gäbe es keine. Die wichtigste spanische Zeitung El País zählt sie zu den 100 einflussreichsten Menschen Lateinamerikas. Ihr letzter nun auch ins Deutsche übersetzte Roman ist eine verblüffende Mischung aus Science Fiction, engagiertem Sozialrealismus und den Mythen der Santería und dominikanischen Ureinwohner.
Ähnlichkeiten mit dem Chavismus nicht zufällig
Santo Domingo im Jahre 2024. Vor drei Jahren hat ein Tsunami die Küsten zerstört. Dabei wurden biologische Kampfstoffe ins Meer gespült – die blaue Karibik ist nur noch eine schwarze stinkende Kloake. Roboter patrouillieren auf den Straßen und entsorgen verseuchte Flüchtlinge aus dem benachbarten Haiti. Acilde, die 16-jährige Tochter einer Prostituierten, arbeitet als Hausmädchen bei einer hohen Voodoo-Priesterin und träumt davon, ein Mann zu werden und ein eigenes Restaurant zu besitzen. Doch von den Eingeweihten der Santería ist ihr eine andere Aufgabe zugedacht, die sich erst nach einem Mord enthüllt. Und zu ihrer Überraschung ist auch der Präsident des Landes, der die Lagerung der Biowaffen aus Venezuela einst erlaubt hatte, an der ganzen Sache beteiligt. Der Mann, der die Santería zur Staatsreligion gemacht und eine volksnahes autokratisches System errichtet hat. Ähnlichkeiten mit dem Chavismus sind da nicht zufällig.
Acilde wird nun mit einer Spritze zum Mann gemacht – und taucht im Jahr 1991 unter der Obhut eines indigenen Fischers in einer wunderschönen Lagune aus den Tentakeln der Seeanemone auf. Zehn Jahre später wird der erfolglose Künstler Argenis, von einem Kunstmäzen in dessen Haus an eben dieser Lagune eingeladen. Dort gerät er in die Höhle einer Seeanemone, erleidet eine schwere Vergiftung und findet sich unter einer Horde geflüchteter Bukanier im 17. Jahrhundert wieder.
Voll Fantasie und trotzdem sehr realistisch
Dass dies alles am Ende doch eine zwingende Logik besitzt, ist vielleicht die größte Kühnheit dieses Romans, der über die Beschränkungen von Zeit, Realität und Geschlecht locker hinwegfantasiert – und dennoch im Detail sehr realistisch aus den parallelen Wirklichkeiten des karibischen Alltags erzählt.