Rittel/Karwelat: "Lasst uns reden: Frauenprotokolle aus der Colonia Dignidad"
Verlag Schmetterling, Stuttgart, 2018
272 Seiten, 29,80 Euro
Schockierende Einblicke in eine sadistische Sekte
Sie mussten Misshandlungen und Folter ertragen – und viele schauten weg. In "Lasst uns reden" von Heike Rittel und Jürgen Karwelat berichten Frauen über den menschenverachtenden Alltag der Colonia Dignidad in Chile.
"Ein weiteres schmerzhaftes Gefühl ist die traurige Tatsache, dass wir Mädchen uns gegenseitig verprügelten und verdreschen mussten. (...) Nur für Lappalien mussten wir oft so lange zuschlagen, bis die Bestrafte stark blutete oder in Ohnmacht fiel. Schäfer strafte oft auch persönlich. Er trat mit Füßen gegen und auf unsere Körper."
So Maria Schnellenkamp in dem Buch "Lasst uns reden. Frauenprotokolle aus der Colonia Dignidad" von Heike Rittel und Jürgen Karwelat. Maria Schnellenkamp ist Jahrgang 1969 und wurde in die sogenannte "Kolonie der Würde" hineingeboren.
Die ehemalige Colonia Dignidad – sie liegt zirka 500 km südlich von Santiago de Chile. Dorthin war der Sektenchef Paul Schäfer 1961 geflüchtet, nachdem ihn die Bonner Staatsanwaltschaft wegen Kindesmissbrauchs vor Gericht stellen wollte. Schäfer hatte seine Flucht gut vorbereitet. Es war ja auch nicht das erste Mal, dass man gegen ihn in dieser Angelegenheit ermittelte.
13 Protokolle und ausführliche Einleitung
Über Schäfers pädophile Neigung und seine Vorliebe für Bestrafungen unter anderem durch Elektroschocks an den männlichen Genitalien ist in den letzten Jahren vielfach berichtet worden. Wie aber erging es den Mädchen und Frauen der Colonia Dignidad? Obwohl auf vielfältige Weise missbraucht und zu Arbeitsdrohnen degradiert, spielten sie in der Aufarbeitung bislang zu gut wie gar keine Rolle.
Der Schmetterling-Verlag hat sich in seiner Verlags-Geschichte seit Jahrzehnten kritisch mit den Geschehnissen der Kolonie und seinen Verstrickungen mit der deutschen und chilenischen Politik auseinander gesetzt. So ist es zu begrüßen, dass er nun auch dieses Buch mit insgesamt 13 Protokollen herausgebracht hat. Eine ausführliche Einleitung stellt die Protokolle in einen zeithistorischen Zusammenhang. Andreas Höfer fotografierte die Interviewten.
"Plötzlich packte er mich, stellte mich an die Wand auf den Kopf und befahl 'Stütz dich auf die Hände, drück deinen Dups an die Wand!' Als er merkte, dass ich zitterte, kippelte, mich allein nicht im Kopfstand halten konnte, drückte Schäfer seinen kräftigen Körper an meinen, riss mir die Beine so brutal auseinander, dass ich sofort schrie. ... Er spreizte meine Beine noch weiter auseinander und spielte, spielte, spielte mit seinen kräftigen Fingern in meiner Vagina. ... Mein Schreien brachte ihn so in Wut, dass er mich zur Seite schmiss und befahl: 'Zieh dich an!' ... Dann packte er mich erneut und knallte meinen Kopf voller Hass auf die Schreibtischkante. Es krachte in meinem Schädel. Meine Nase war gebrochen."
Frauen verschiedenster Generationen kommen zu Wort
Iris Arevalo, Jahrgang 1966, eine gebürtige Chilenin. Ihre Mutter hatte sie als Baby zu den Deutschen gebracht, in der irrigen Hoffnung, sie werde dort ein besseres Leben finden.
Heike Rittel besuchte 2015 und 2016 mehrfach die "Villa Baviera" – das "Bayerische Dorf", wie sich die Colonia Dignidad seit 1988 nennt. Knapp 100 Menschen leben heute dort; es sind vor allem ehemalige Kolonisten und Kolonistinnen mit ihren Kindern, viele von ihnen noch immer deutsche Staatsbürger.
Rittel befragte Frauen verschiedenster Generationen: Deutsche, die während oder kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland geboren worden waren und als Erwachsene freiwillig nach Chile gingen, Chileninnen, die – wie Iris Arevalo – als Baby oder Kleinkinder in die Kolonie kamen sowie Töchter von Deutschen, die – wie Maria Schnellenkamp – in das System hineingeboren wurden.
Letztere wussten nicht, wer ihre Eltern sind. Sollten, durften es nicht wissen, denn: Familien waren nicht erlaubt. Familien hätten für Schäfer Gefahr bedeutet. Die Kinder wuchsen in Mädchen- und Jungen-Gruppen auf, erzogen von so genannten Gruppentanten und Gruppenonkeln. Dass eine Gruppentante die eigene, leibliche Mutter war, kam dabei des Öfteren vor. Sich jedoch auch nur indirekt als solche zu erkennen zu geben, war bei Strafe verboten.
"Ich musste wieder für drei Wochen ins Krankenhaus. Sobald ich aus dem Schlaf erwachte, bekam ich erneut eine Spritze, danach wieder und wieder diese quälenden Elektroschocks in die Vagina."
Eva Maria Laube Laib, Jahrgang 1970, geboren in der Colonia Dignidad.
"Das Problem für unsere Gemeinde war gar nicht dieser einzelne Mann, sondern die, die alle hinter ihm standen."
Der westdeutsche Staat und die Colonia
Renate Malessa. Als Kriegskind 1941 in Ostpreußen geboren, kam ihre Familie am Endes des Krieges nach Westdeutschland. Wie viele Vertriebene – meist tiefgläubig – blieb sie dort am Rande der Gesellschaft und suchte in christlichen Gemeinden eine Ersatzfamilie. 1969 folgte die damals schon 28-Jährige Paul Schäfer nach Chile und arbeitete dort viele Jahre als Krankenschwester im Krankenhaus – einem Ort, an dem längst gefoltert wurde. Auch Pinochets Geheimdienst DINA nutzte die Kolonie als Haft- und Folterlager gegen seine politischen Gegner.
Warum ahnten sie nichts, fragt Malessa in ihren Ausführungen, warum haben sie nicht aufgehorcht:
"Ich kann das bis heute noch nicht begreifen. Aber wir kamen einfach nicht darauf. ... Von den Misshandlungen unserer Kinder erfuhren wir erst 2000. Nie werde ich mir hier mein Versagen verzeihen. Nie!"
Was den Fall der Colonia Dignidad so erschütternd macht: Die Deutsche Botschaft in Chile und damit das Auswärtige Amt, letztlich also der westdeutsche Staat hatten jahrzehntelang mit der Colonia Dignidad zusammengearbeitet. Erstmals offiziell anerkannt wurde dies im April 2016 vom damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier. In einer viel beachteten Rede kündigte Steinmeier an, den Fall künftig als Negativbeispiel in die Ausbildung von Diplomaten aufzunehmen. Was ist seitdem geschehen? Es wäre wünschenswert gewesen, wenn auch diese Entwicklungen zumindest erwähnt worden wären. Ebenso wie die nach wie vor nicht aufgearbeiteten, jahrzehntelangen Klüngeleien mit der CSU sowie die Zusammenarbeit mit dem BND.
Erschreckend aktuelle Fragen
Dennoch: "Lasst uns reden. Frauenprotokolle aus der Colonia Dignidad" ein wichtiges Buch – nicht nur wegen der dargestellten Schicksale, sondern weil es Fragen aufwirft, die gerade wieder erschreckend aktuell werden: Was erzeugt in Menschen die Bereitschaft, ihre Selbstbestimmung aufzugeben, um dem Ruf irgendwelcher "Führer" zu folgen? Und wie können wir – gesellschaftlich wie persönlich – dieser Bereitschaft entgegenwirken und den Katastrophen, die unvermeidlich daraus entstehen? Denn Menschen, die in einem geschlossenen System aufwachsen, empfinden die vorgefundenen Regeln – so inhuman sie auch sein mögen - als normal und werden sie verteidigen. Notfalls mit Gewalt. Letzteres ist in diesem aufwühlenden Buch nachzulesen.