"Das hat etwas Stabilisierendes"
Die Zeit rund um Weihnachten ist geprägt von vielen Bräuchen und Ritualen. Dennoch sei das Fest auch heute noch mehr als nur eine Hülle, sagt der Theologe Stephan Wahle, der sich wissenschaftlich damit beschäftigt. Dass die Gesellschaft an Heiligabend "fast still wird", werde etwa als wohltuend empfunden.
Weihnachten sei mehr als eine Hülle oder eine schöne heile Welt, sagte der Theologe Stephan Wahle im Deutschlandfunk Kultur. Er ist Leiter der Arbeitsstelle Liturgie und Kultur an der Universität Freiburg und hat eine Monographie über die vielen verschiedenen Facetten des Weihnachtsfestes geschrieben, die auch erklärt, warum das Fest immer noch so attraktiv ist. Trotz der Kommerzialisierung und Säkularisierung des Festes in vielen Familien entdeckt er darin unverändert die Grundzüge des christlichen Festes wieder.
Licht im Dunkel
"Das Besondere ist eben dieses Festivitätsgefühl, das sich über einige Wochen über einen öffentlichen Raum, sprich unsere Gesellschaft, ausbreitet", sagte Wahle. Hinzu komme die Stimmung, die die Natur vorgebe. In der Dunkelheit werde das Licht, das man hineinträgt, irgendwie anders spürbar als sonst im Jahresverlauf. Dabei spiele auch eine Rolle, dass das Jahr zu Ende gehe. "Aber letztlich auch die festen Konventionen, die eigentlich irgendwie so attraktiv erscheinen, dass man sie von Generation zu Generation weiter gibt."
Wahle räumt auch mit dem Gerücht auf, der Getränkekonzern Coca Cola habe den Weihnachtsmann erfunden. "Natürlich gab es die Werbung in den 20er- und 30er-Jahren mit diesem roten Mann, aber letztlich ist der Weihnachtsmann schon viel älter." Schon im 19. Jahrhundert habe es den Herrn Winter gegeben, aus dem dann durch den Export in die "neue Welt" der Weihnachtsmann geworden sei. "Coca Cola hat das einfach in einer genialen Werbestrategie aufgegriffen und es ist irgendwie in unser kollektives Bewusstsein hineingekommen."
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Adventskranz und Weihnachtsmarkt, Barbarazweige und Nikolausstiefel – die Vorweihnachtszeit ist geprägt von vielen Bräuchen und Ritualen. Schaut man ins Lexikon, dann definiert sich ein Brauch "als eine innerhalb von Gemeinschaft entstandene, regelmäßig wiederkehrende soziale Handlung von Menschen in festen, stark ritualisierten Formen".
Das hört sich sehr theoretisch und kompliziert an, also fragen wir jemanden, der sich wirklich auskennt damit, und das ist Stephan Wahle, außerplanmäßiger Professor für Theologie an der Uni Freiburg. Sein Habilitationsprojekt trug den Titel "Das Weihnachtsfest in Liturgie und Gesellschaft". Guten Morgen, Herr Wahle!
Stephan Wahle: Guten Morgen!
Welty: Was hat Sie am Weihnachtsfest fasziniert und interessiert, dass Sie das auch wissenschaftlich erarbeiten wollten?
Wahle: Eigentlich gibt es keine große Arbeit über Weihnachten, das hat mich immer verblüfft. Es wird natürlich viel über Ostern, über die großen Jahresfeste geforscht, vor allem die Geschichte, aber es fehlte eigentlich eine zusammenfassende Monografie über die vielen verschiedenen Facetten des Weihnachtsfestes, die auch erklärt, warum das Fest immer noch so attraktiv ist, ob es noch einen religiösen Gehalt hat oder nur noch eine kulturelle Institution darstellt.
Welty: Weihnachten feiert die Geburt Jesu, ist ein christliches Hochfest, viele Bräuche kommen aber, Sie haben es gerade schon angesprochen, inzwischen ausgesprochen weltlich daher. Ist da tatsächlich nur noch die Hülle übrig geblieben?
Wahle: Das kann man vielleicht auf den ersten Blick immer so meinen, ich glaube es allerdings nicht. Wenn man auch die Leute fragt, warum sie Weihnachten feiern, vor allem den Heiligabend, dann wird meist zuerst geantwortet, ja, mit einem religiösen Bewusstsein nicht unbedingt, doch beim Nachfragen kommen doch in der häuslichen Praxis auch ernste Fragen auf, meist unbewusst – die Freude am Dasein, die Veränderungen von Zeit und Leben –, und das kann man durchaus auch noch mal in einen religiösen Kontext hineinstellen, sodass Weihnachten mehr ist als nur eine Hülle oder eine schöne heile Welt, die dort gefeiert wird.
Welty: Aber was ist denn zum Beispiel mit dem Gerücht, das sich hartnäckig hält, der Weihnachtsmann sei eine Erfindung von Coca-Cola?
Wahle: Ja, das ist auch merkwürdig, dass sich das Gerücht immer noch so hält. Natürlich gab es die Werbung von Coca-Cola in den 20er-, 30er-Jahren mit diesem roten Mann, aber letztlich ist der Weihnachtsmann schon viel älter, auch seine Gewandung. Wir haben also schon die Transformation im 19. Jahrhundert, dort haben wir diesen Herrn Winter, aus dem dann auch durch den Export in die neue Welt der Weihnachtsmann werden wird, und Coca-Cola hat das einfach in einer genialen Werbestrategie aufgegriffen und das ist dann irgendwie in unser kollektives Bewusstsein hineingekommen.
Entlastende Rituale
Welty: Warum ist es denn ausgerechnet das Weihnachtsfest, das auch öffentlich so viel Raum einnimmt, sei es auf den Weihnachtsmärkten oder bei der Weihnachtsbeleuchtung, wobei ich letztens auch hängen geblieben bin an der Schlagzeile, dass in diesem Jahr für Berlin Unter den Linden die Weihnachtsbeleuchtung ausfällt, weil zu teuer. (Anm. d. Red.: Unter den Linden kann aufgrund einer Spendenaktion doch beleuchtet werden.)
Wahle: Das stimmt, sogar auch in Freiburg gab es diese Diskussionen darüber, und doch hat dann nachher ein Privatmann gesagt, ich spring hier ein, weil ohne Weihnachtsbeleuchtung, ohne diese Atmosphäre und Stimmung in dieser Zeit kann ich mir eigentlich meine Stadt gar nicht vorstellen. Und ich glaube, das Besondere ist eben dieses Gefühl, dieses Festivitätsgefühl, was sich dort einige Wochen über einen öffentlichen Raum, sprich unsere Gesellschaft ausbreitet.
Natürlich kommt auch hinzu die Stimmung, die auch die Natur vorgibt, das Dunkle, wo dann das Licht, was man hineinträgt, irgendwie anders spürbar wird als sonst im Jahresverlauf. Also da kommt vieles zusammen, natürlich auch das zu Ende gehende Jahr, aber letztlich auch die festen Konventionen, die eigentlich irgendwie so attraktiv erscheinen, dass man sie von Generation zu Generation weitergibt.
Welty: In vielen Familien gibt es zu Weihnachten immer dasselbe zu essen, hat es fast einen festen Ablauf, fast eine Choreografie. Sind wir zu faul, um uns was Neues auszudenken?
Wahle: Zunächst mal entlasten ja auch Rituale vor dem ständigen immer wieder neu machen müssen. Das ist auch das Schöne an Weihnachten, man weiß ja, der Termin ist gesetzt, ich muss das nicht planen, so wie ich vielleicht den Sommerurlaub oder andere große Ereignisse im Jahr planen muss, und wenn man dann weiß, okay, ich muss auch jetzt in der Festfolge nicht immer alles neu arrangieren, ich kann mich hineinlassen, auch in diese Konvention, dass da eine Gesellschaft an einem Tag, an einem Nachmittag fast still wird, hat etwas Stabilisierendes, Gutes, das wird auch wiedererkannt.
Es gab natürlich auch mal Zeiten, wo dieses Rituelle verschrien war, immer dasselbe, Wiederholungen, können wir das nicht irgendwie dann auch eigens arrangieren. Wenn man aber genau hinschaut, ist, glaube ich, auch jede einzelne Festfeier immer wieder individuell. Immer wieder gibt es kleinere Veränderungen, und erst recht, wenn sich die Lebensverhältnisse neu zusammensetzen, wenn ein Partner gestorben ist und so weiter, dann verändert sich natürlich doch auch noch mal einiges in der eigenen Praxis.
Lieblingslieder zu Weihnachten
Welty: Apropos Wiederholung, für viele ist Weihnachten dann, wenn "Last Christmas" von Wham! im Radio läuft. Ich reagiere sofort mit Pipi in den Augen bei "Driving home for Christmas" von Chris Rea. Was ist für Sie der ultimative Weihnachtspopsong?
Wahle: Eigentlich "White Christmas", also wenn man sieht, das ist eins der populärsten, auch erfolgreichsten, kommerziell erfolgreichsten Lieder. Das Lied hat eine relativ spannende Entstehungsgeschichte. Das war ein jüdischer Kantorensohn, der dieses Lied komponiert hat und dann Bing Crosby mit seiner melancholischen Stimmung das gesungen hat.
Und wenn man die jüdisch-christliche Entstehungsgeschichte mitbedenkt und auch, also nicht unbedingt jede Performance, die man so von Schlagersängern kennt, sondern so dieses ursprüngliche Duo mithört, dann, finde ich, schwingt da so eine schöne melancholische Stimmung mit, ach wäre es doch vielleicht irgendwie ein bisschen besser.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.