Rituale zum Neujahrsfest

Von Evelyn Bartolmai |
Für Rosch haSchana muss der Mensch ein reines Gewissen haben. Das beginnt damit, dass man sich von allem befreit, was das Gewissen belastet – also man erforscht sich selbst und legt sich Rechenschaft über die eigenen Verfehlungen ab.
Um sich auch physisch von den Sünden zu befreien, haben uns die Weisen empfohlen, nach dem Gottesdienst von Rosch haSchana zu einem Wasser zu gehen und dort eine Zeremonie zu vollziehen, die auf Hebräisch "Taschlich" heißt. Der Begriff kommt aus dem Buch des Propheten Micha, wo es im siebten Kapitel heißt, dass Gott die Sünden der Menschen in die Tiefen des Meeres werfen wird.

Möglicherweise hatten schon die Weisen ihre Zweifel, ob Gott es wohl schaffen werde, in nur zwei Tagen sämtliche Verfehlungen der Menschen zu versenken – und so haben sie gesagt, die Sünder sollten das gefälligst selber tun. Außerdem versprachen sie sich wohl eine heilsam-pädagogische Wirkung davon, dass jeder mit Abscheu und Reue noch einmal den eigenen Müll in die Hand nehmen muss, wie Rav David Ohajon, Hauptrabbiner von Alfei Menashe, schmunzelnd hinzufügt:

"Ein Mensch, der sündigt, und das vielleicht schon öfter getan hat, hat sich ja schon daran gewöhnt. Aber wenn er Reue empfindet, dann will er sich ja davon trennen – und wie macht er das? Nicht allein in Gedanken und auf einer geistigen Ebene, sondern auch in der Tat. Also er geht zum Meer, hebt die Arme, wühlt in seinen Taschen und schüttelt sie aus, und das hilft ihm, wirklich seine Sünden abzuschütteln."

Vorausgesetzt, der Mensch hat sich im Vorfeld auch geistig bereits davon getrennt. Taschlich ist ja nicht nur irgendein Hokuspokus, bei dem die Verfehlungen verschwinden und man dann zum Alltag zurückkehrt. Nein, sagt Rav Ohajon, wahre Umkehr erfordert drei ganz klare Schritte:

"Reue besteht zunächst aus dem Eingeständnis. Also dass ein Mensch, wie der Rambam verlangt, sich an den Allmächtigen wendet und wirklich gesteht, ja, ich habe das und das getan, ich bitte um Vergebung und ich will es nie wieder tun. Die zweite Sache ist das Ablassen von der Sünde, und es ist dem Menschen verboten, auch nur darüber nachzudenken, dahin zurückzukehren. Und drittens soll man sich dies im wahrsten Sinne des Wortes auch zu Herzen zu nehmen, und nur dann werden die Sünden auch vergeben."

Um dem Brauch des Taschlich Nachdruck zu verleihen, soll er nicht zuletzt in aller Öffentlichkeit vollzogen werden – vor aller Augen sozusagen, wie Rabbiner Ohajon betont. Deshalb geht man bevorzugt an ein Gewässer, in dem es Fische gibt:

"Das kommt aus der Kabbala, wo es als Anleitung für Taschlich (ch wie deutsches ‚ach’) steht. Es heißt dort ‚eina pekiha’ – das offene Auge. Nicht nur, dass der Allmächtige alles sieht, das ist sowieso klar, aber wir bitten ihn, genauso wie der Fisch sein Auge nicht schließt, dass auch Gott nie sein Auge von uns wenden und verschließen möge, dass er uns ein gutes Jahr schenken und immer mit offenen Augen wie ein Fisch im Wasser über uns wachen möge."