Roadmovie für die Ohren

"Tschick", der Abenteuer- und Pubertätsroman des Berliner Schriftstellers Wolfgang Herrndorf, war der literarische Überraschungserfolg des vergangenen Jahres. Jetzt hat der NDR unter der Regie von Iris Drögekamp ein 84-minütiges Hörspiel aus dem Beststeller gemacht.
"Er war so mittelgroß. Trug ein schmuddliges weißes Hemd, Zehn-Euro-Jeans und braune Schuhe, die aussahen wie tote Ratten."

Lehrer: "Unser Freund Andrej kommt aus einer deutschstämmigen Familie, aber seine Muttersprache ist Russisch. Er ist ein großer Formulierer, wie wir sehen, aber er hat die deutsche Sprache erst in Deutschland gelernt und verdient folglich unsere Rücksicht in gewissen, naja, Bereichen."

Andrej Tschichatschow, genannt Tschick, ist der neue Schüler in Maik Klingenbergs achter Klasse. Der Sohn von Spätaussiedlern, die im Marzahner Plattenbau leben, ist klug und gewitzt, aber seine Verhältnisse wirken ein bisschen prekär und mafiös und ziemlich alkoholgetränkt.

Der Ich-Erzähler Maik Klingenberg, gespielt von Julian Greis, ist eine Identifikationsfigur für jeden Jugendlichen und erst recht für alle Älteren, die bei "Tschick" den sentimentalischen Rückblick auf ihre Tom-Sawyer-Jahre genießen. Maik kommt seinerseits aus wohlstandsverwahrlosten Verhältnissen: Der Vater, ein Immobilienmakler, ist meist mit seiner Assistentin und Geliebten unterwegs, die Mutter auf der Beautyfarm, will sagen: in der Entzugsklinik. Maik ist hoffnungslos verliebt in Tatjana, die Klassenschönste, und Tschick möchte wissen, ob er zu ihrer Party geht.

"Ich hab morgen schon was anderes vor ... "
"Okay."
"Außerdem bin ich nicht eingeladen."
"Ist ja klasse. Und ich dachte, ich bin der einzige."
"Ist doch eh langweilig."
"Für Schwule vielleicht. Aber für Leute wie mich, die noch im Saft stehen, ist diese Party ein Must. Natalie ist da, und Laura und Corinna und Sarah ... ."

Mit schwerem russischen Akzent gesprochen von Constantin von Jascheroff, bekommt Tschick im Hörspiel ein noch stärkeres Profil als bei der Lektüre. Der im Saft stehende Junge wird am Ende gestehen, dass er sich für all die Natalies und Lauras und Sarahs leider gar nicht interessiert. Aber schon an diesem Punkt haben sich zwei Außenseiter gefunden. Es ist der Anfang einer wunderbaren Freundschaft. Erst legen die beiden Uneingeladenen einen knalligen Kurzauftritt bei Tatjanas Party hin. Dann beginnt der große Sommerferienroman. Sie machen sich im geklauten Lada auf den Weg in die Walachei, die wirkliche, irgendwo da hinten in Osteuropa, wo Tschicks Vorfahren herkommen.

"Ich hatte meinen Arm aus dem Fenster gehängt und den Kopf draufgelegt. Wir fuhren Tempo 30 zwischen Wiesen und Feldern hindurch, über denen langsam die Sonne aufging, irgendwo hinter Rahnsdorf. Und es war das Schönste, was ich je erlebt habe ... Es war eine ganz andere Welt. Alles war größer, die Farben satter, die Geräusche Dolby Surround."

Allzu weit kommen sie aber nicht, denn schon im Hinterland von Berlin warten die Abenteuer, als würde der Mississippi durch Brandenburg fließen - warten nie gesehene Landschaften und Begegnungen mit merkwürdigen Menschen. Sie geraten in die Geisterdörfer der Braunkohlereviere, wo sie von einem alten Einsiedler beschossen werden, der dann aber doch ganz in Ordnung ist, wie fast alle Figuren in diesem menschenfreundlichen Roman.

14-Jährige allein im Auto unterwegs, das ist allerdings verdächtig. Weil sie sich nicht an die Tankstelle trauen, beschließen die abenteuernden Dilettanten, Benzin zu klauen. Sie suchen also einen Schlauch auf einer riesigen Müllkippe - und finden dort eine neue Gefährtin, die verwahrloste Isa. Erst riecht sie ein bisschen unangenehm, aber nach einem Bad im See wird es richtig romantisch:

"Und dann saßen wir nebeneinander, schauten in die Landschaft und warteten darauf, dass Tschick zurückkam. Lisa hatte ihr T-Shirt noch immer nicht angezogen, und vor uns lagen die Berge mit ihrem blauen Morgennebel, und ich fragte mich, warum das eigentlich so schön war."

"Willst du?"

"Sie hatte ihre Hand auf mein Knie gelegt, und mein Gesicht fühlte sich an, als hätte man heißes Wasser draufgegossen."

"Was will ich?"

Erste Liebe, zart und einfühlsam geschildert. Das ist die Kunst Wolfgang Herrndorfs: die starken Gefühle und die großen Fragen des Lebens im Rahmen eines Pubertätsromans für jedes Lebensalter zu verhandeln. Bevor es aber allzu rührend wird, kommt der große Knall. Maik am Steuer des Lada; ein schlangenlinienfahrender Schweinetransporter voraus:

Tschick: "Scheiße! Brems! Brems!"
"Aahhh!"

Ein Happy End hört sich anders an. Die beiden Ausreißer überleben den Unfall mit Blessuren. Es kommt noch zu allerhand Familienaufregung und zum Prozess. Trotzdem wird alles gut. Sehr gut ist auch dieses Hörspiel. "Tschick" erweist sich als ideale Vorlage: lebendige Charaktere, stimmige Dialoge, herzliche Komik - und ein Ensemble im Studio, das mit spürbarem Vergnügen an der Sache agiert. Die Angst, ein Langweiler zu sein, die Maik anfangs so quält - weder Herrndorfs Figur noch dieses Hörspiel müssen sie fürchten.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Wolfgang Herrndorf: Tschick
Argon Verlag, Berlin 2011
2 CDs, 84 Minuten