"Hitler hat nicht geblufft, er wollte den Krieg"
In seinem Roman "München" begibt sich der britische Schriftsteller Robert Harris ins Jahr 1938, als Deutschland im Münchner Abkommen das Sudetenland zugesprochen wurde. Die Recherche zum Buch beschreibt er als "indirekten Weg", mit den politischen Themen der Gegenwart umzugehen.
Frank Meyer: "Vaterland", dieser Roman war der erste Riesenerfolg des britischen Autors Robert Harris, vor 25 Jahren ist der erschienen. Das war ein Buch über ein Nazi-Deutschland, das im Jahr 1964 immer noch existiert und große Teile Europas beherrscht. Robert Harris hat danach Romane über die römische Geschichte geschrieben, über andere große Gestalten und Ereignisse in der Historie. Jetzt ist er zurückgekommen auf das nationalsozialistische Deutschland mit dem Roman "München". Robert Harris war vor der Sendung hier bei uns zu Gast.
Ich habe ihn zuerst gefragt: Sie haben vor 30 Jahren schon als Journalist eine Dokumentation über das Münchner Abkommen von 1938 gedreht. Und um dieses Abkommen geht es auch in Ihrem neuen Roman. Das Thema hat Sie offenbar nicht losgelassen 30 Jahre lang. Warum nicht?
"Hitler wollte den Krieg bereits 1938"
Robert Harris: Chamberlain wollte Frieden um jeden Preis, und Hitler wollte den Krieg um jeden Preis. Und ich glaube, ich mache in meinem Buch sehr deutlich, wie tief der Verrat an den Tschechoslowaken war während des Münchner Abkommens, sie waren regelrecht eingesperrt in diesem Hotel, in dem auch die britische Delegation wohnte.
Aber Hitler wollte den Krieg bereits 1938 und hat sein Leben lang geglaubt, dass, hätte er den Krieg 1938 bereits begonnen, dass er dann diesen Krieg auch gewonnen hätte. Und Chamberlain glaubte das auch. Insofern war das Münchner Abkommen ein notwendiges Übel und man muss das eben auch so sehen, dass es Großbritannien die Möglichkeit gegeben hat, sich neu zu bewaffnen. Und als der Krieg dann zwischen Deutschland und Großbritannien 1940 ausbrach, konnte Großbritannien dagegenhalten. Es gab damals ein großes Gefühl von Einheit in diesem Land. Insofern hat Chamberlain im Nachtrag eigentlich recht behalten geschichtlich.
Meyer: Es sieht auch in vielen historischen Darstellungen so aus, als ob damals, 1938 in München, Hitler einen naiven, einen schwachen Chamberlain ja im Prinzip zum Narren gehalten hätte. In Ihrem Roman ist es fast andersherum, da haben Sie die Deutung, dass er, Chamberlain, Hitler vorgeführt hat. Wie kommen Sie zu dieser Sicht auf dieses Drama, dass diese Tage in München damals ja tatsächlich waren?
Harris: Ich glaube, dass Hitler nicht nur geblufft hat, sondern Hitler wollte wirklich den Krieg. Und er hat ja dann auch das Sudetenland bekommen und hat das wie einen Sieg gefeiert. Aber er ist insofern von Chamberlain ein bisschen an der Nase herumgeführt worden, dass Hitler ursprünglich wirklich die Tschechoslowakei sofort überfallen wollte, er wollte sofort Prag einnehmen. Und sein Fehler war es, dass er vorher eine Liste von Bedingungen gestellt hat an Chamberlain und dass Chamberlain praktisch all diese Bedingungen erfüllt hat. Und das hat Hitler in gewisse Weise auf einem falschen Fuß erwischt, weil er damit nicht gerechnet hatte. Und insofern war Chamberlain relativ clever.
"Hitler war nach diesem Abkommen permanent schlecht gelaunt"
Und Joachim Fest hat es auch gesagt in seinen Gesprächen mit Albert Speer hat Speer eben zugegeben, dass Hitler zwei Wochen nach diesem Abkommen permanent schlecht gelaunt war und diese schlechte Laune auch an allen ausließ und dann mal auf einem Essen zugegessen hatte, dass die Deutschen von Chamberlain eben – er hat ihn namentlich genannt – hereingelegt worden seien. Deswegen denke ich nicht, dass ich mir das jetzt ausdenke.
Meyer: Jetzt tue ich ein bisschen so die ganze Zeit, als ob wir über ein historisches Sachbuch hier sprechen würden. Das ist natürlich falsch, denn Sie haben einen Roman geschrieben, einen Roman, der überraschend spannend ist, obwohl man ja weiß, wie die Geschichte ausgeht, dass eben ein Jahr später der Krieg dann tatsächlich beginnt, der Krieg, den Neville Chamberlain verhindern wollte. Das liegt vor allem daran, diese Spannung, die in Ihrem Roman liegt, dass Sie zwei fiktive Figuren da eingebaut haben, einen jungen britischen und einen jungen deutschen Diplomaten. Diese beiden, welche Rollen spielen denn die für Sie, für das Funktionieren Ihres Romans?
Harris: Ich hatte ja schon, wie ich eingangs erwähnte, vor 25 Jahren die Idee, etwas über einen britischen Diplomaten zu machen, der da im Dunstkreis von Chamberlain mit dem Münchner Abkommen zu tun hat. Aber nachdem ich die Tagebücher von Albert Speer gelesen hatte, kam mir dann die Idee, doch auch eine andere Figur einzuführen, eben einen deutschen Diplomaten, der sozusagen die Gegenfigur zu diesem britischen Diplomaten darstellt.
Und dann habe ich mir das so ausgedacht, dass die beiden Freunde waren, dass sie sich 1930 in Oxford kennengelernt haben. Das habe ich auf einer historischen Figur, die es wirklich gegeben hat, nämlich Adam von Trott ein bisschen basiert, der wirklich ein Gegner Hitlers war. Aber wie gesagt, meine beiden Charaktere sind fiktiv und haben sich 1930 in München getrennt – sie hatten irgendwie ein Problem miteinander –, treffen sich acht Jahre später wieder, und der eine ist eben der Brite, das ist Legat, und der andere ist Hartmann. Der eine kommt mit Chamberlains Flugzeug, der andere mit Hitlers Zug. Und dann treffen sie plötzlich wieder aufeinander.
"Diese enorm große Bibliothek, die Hitler hatte"
Meyer: Wenn man das Buch liest, hat man den Eindruck, dass Sie sich wahnsinnig gut auskennen an all den Orten, wo das Ganze spielt, ob das die Berliner S-Bahn ist oder Plätze in München oder zum Beispiel auch die frühere Wohnung von Adolf Hitler in München. Dort waren Sie offenbar selbst, obwohl da jetzt eine Münchener Polizeiinspektion untergebracht ist. Wie haben Sie es denn angestellt, da reinzukommen?
Harris: Ich hatte sehr großes Glück, weil mein deutscher Verleger wirklich beim Bayerischen Innenministerium nachgefragt hat, und man mir dann dieses sehr seltene Privileg eingeräumt hat. Und ich muss wirklich sagen, ich habe das so gut ausgenutzt, wie es nur ging, dass ich mir diese Wohnung von Hitler ganz genau habe anschauen können und genau diese Räume beispielsweise, diese enorm große Bibliothek, die Hitler hatte. Und als Chamberlain ja dann am Freitagfrüh privat Hitler in dieser Wohnung trifft, konnte ich mir das irgendwie sehr gut vorstellen. Das hat meiner Fantasie sehr, sehr gut getan.
Und was mich auch beeindruckt hat, war, dass in dieser Wohnung auch noch das Zimmer von Geli Raubal – der Nichte Hitlers – war, die sich da 1931 erschossen hat. Hitler hatte dieses Zimmer praktisch überhaupt nicht angerührt, und sein eigenes Schlafzimmer war direkt daneben. Man spürte so richtig, dass es da zu irgendeiner Form von inzestuösen Beziehungen zwischen den beiden gekommen sein müsste. Und als Romanautor schlägt das natürlich Funken, wenn man an so einem Ort ist. Das ist dann sehr inspirierend, um eine Geschichte zu konstruieren.
Meyer: Wie ist das überhaupt mit der Fantasie bei so einer Art Buch, die ja auf realhistorische Ereignisse zurückgeht? Andererseits hat es eben einen fiktionalen Teil. Welche Fakten müssen da eigentlich stimmen in so einem Buch, und bei welchen Fakten haben Sie wiederum oder bei welchen Elementen freie Hand als Romanautor?
Harris: In erster Linie versuche ich natürlich, dem Leser zu vermitteln, wie spannend ich diese Geschichte finde. Und natürlich, wenn sich Hitler und Chamberlain treffen, dann versucht man als Autor eben, ein, zwei fiktionale Figuren zu erfinden wie in diesem Fall, durch die man dann in diesen historischen Kontext hineingeworfen wird, die sozusagen so ein bisschen zurückgenommen sind von diesen echten historischen Figuren. Ich setze mir dann immer so eine goldene Regel, und zwar besteht die darin, dass alles, was ich beschreibe, hätte passieren können, also dass nichts sozusagen durch die Geschichte klar widerlegt wird. Ich glaube, nur so kann ich das schreiben, weil ich muss an das glauben, was ich schreibe, und das müsste eigentlich auch jeder Autor tun. Deswegen benutze ich ja beispielsweise auch echte Dokumente, echte Reden. Ich glaube, dass man das nur so machen kann, weil wenn ich das glaube, dann glaubt es wahrscheinlich auch der Leser.
Meyer: Wenn wir jetzt noch einmal zurückkommen zu Neville Chamberlain und seiner Appeasement-Politik oder Beschwichtigungspolitik damals gegenüber Nazi-Deutschland – es stellen sich ja heute ähnliche Fragen wie die, vor der die Regierung Chamberlain damals stand. Wie soll man mit Nordkorea umgehen? Wie soll man mit Russland umgehen angesichts der Annexion der Krim? Meinen Sie denn, man kann aus Chamberlains Verhalten damals, seinem Vorgehen, etwas lernen für die Gegenwart?
"Im Amerikanischen ist 'Appeasement' so etwas wie ein schmutziges Wort"
Robert Harris: Wenn ich dieses Buch schreibe, dann will ich damit auch gewisse Wörter rehabilitieren, nämlich gerade das Wort Appeasement, auf Deutsch Beschwichtigung, weil gerade im Amerikanischen ist dieses Wort "Appeasement" so etwas wie ein schmutziges Wort. Es steht für etwas ganz Negatives. Und wenn wir beispielsweise auf den Irak-Konflikt mit Saddam Hussein 2002 zurückkommen, waren eigentlich alle, die sich damals gegen diesen Irakkrieg ausgesprochen haben, das waren eben "München-Liebhaber", das waren "Beschwichtiger", und das war eindeutig negativ konnotiert.
Mir geht es als Autor auch darum, gewisse Wörter auch sprachlich zu retten. Und "Beschwichtigung" ist so ein Wort, und ich kann Ihnen auch ein paar historische Beispiele geben. Die Befriedung des Nordirlandkonfliktes beispielsweise, in der eine demokratische Regierung mit der IRA verhandelt hat. Möchte ich die IRA auf keinen Fall mit Hitler gleichsetzen, aber es war eine Organisation, die mit Waffengewalt eine demokratische Regierung bekämpft hat. Trotzdem ist es zu einem Abkommen gekommen. Natürlich hatte 1938 Chamberlain auch die hehre Absicht, Europa zu befrieden. Das ist missglückt, weil Hitler um jeden Preis Krieg wollte. Aber den Versuch war es wert, und es gab dann den späteren Alliierten auch die moralische Autorität, gegen Hitler zu kämpfen, die sie sonst nicht gehabt hätten.
Meyer: Ihr Roman ist offenbar auch noch auf einer anderen Ebene an die Gegenwart angebunden, zumindest für Sie. Sie haben nämlich auch gesagt, die Brexit-Entscheidung in Großbritannien wäre auch ein Grund für Sie gewesen, diesen Roman zu schreiben. Was hat denn München 1938 für Sie zu tun mit dem Brexit?
Harris: 1940 stand ja Großbritannien plötzlich Hitler gegenüber ganz allein da. Frankreich hatte gerade verloren, und das hat zu so einer nationalen Legendenbildung im Vereinigten Königreich geführt. Und wenn Sie sich den Film von Christopher Nolan, "Dunkirk", anschauen, der dieses Jahr in die Kinos kam, dann ist das quasi "Brexit – The Movie", also der Film über den Brexit in gewisser Weise, weil es eben genau darum geht.
Großbritannien war ganz allein und hat sich da auch so eine Art Ruhm erobert. Und diese Psychose, dieses Gefühl, ganz allein zu stehen, die hat letztendlich auch zum Brexit geführt, weil letztendlich Europa immer noch irgendwo mit dem Krieg assoziiert wird. Und dieser Krieg hatte für Europa damals im Zweiten Weltkrieg fatale Konsequenzen, aber eben nicht für Großbritannien. Und 1938 war eben eigentlich der realistischere Schnappschuss der Geschichte. Deswegen ist es mir so wichtig, diese beiden Jahre 1938 und 1940 miteinander zu verbinden, weil sie zusammengehören. 1938 haben wir den Preis dafür bezahlt, dass wir 1940 einen gewissen Ruhm erleben konnten. Und das meine ich im Kontext mit dem Brexit.
Meyer: Man hört ja da schon heraus, dass diese Brexit-Entscheidung Sie schmerzt. Wie ist das für Sie, wie hat denn diese Entscheidung in Ihrem Land, die ja so knapp gefallen, wie hat das Ihr Verhältnis zu Ihrem Land beeinflusst?
Harris: Ich liebe mein Land, aber ich liebe mein Land für gewisse Werte. Beispielsweise liebe ich Großbritannien dafür, dass es eine stabile Demokratie hat, dass es eine Tradition demokratischer Organisationen gibt. Auch für eine gewisse Ironie, für eine gewisse Höflichkeit und für eine Offenheit gegenüber Ausländern, eine gewisse Toleranz. Und ich habe das Gefühl, dass viele dieser Werte mit Füßen getreten worden sind durch die Brexit-Entscheidung. Und das macht mich wirklich traurig, das macht mich richtig depressiv sogar. Und ich finde, dass Volksabstimmungen ein fürchterliches Mittel sind und einer repräsentativen Demokratie letztendlich schaden. Hitler beispielsweise hat immer wieder, auch 1940, solche Volksabstimmungen, solche Referenden für seine Politik genutzt. Nun will ich auf keinen Fall die Hitler-Regierung mit der britischen Regierung vergleichen, aber letztendlich sind solche Volksabstimmungen Werkzeuge von Diktatoren. Das sind nicht Werkzeuge von parlamentarischen Demokratien.
"Aktuelle politische Ideen in eine große Fiktion einbetten"
Meyer: Nun treibt Sie das auch als Romanautor um. Könnte es sein, dass sie den Brexit oder eine ähnliche Entscheidung zum Thema machen für Sie als Romanautor?
Harris: Wenn ich einen Weg finde, sozusagen aus diesem Thema auch Kunst zu machen, dann ja, auf jeden Fall. Ich bin ein großer Fan von Orwells "1984", da hat er es geschafft, damals aktuelle politische Ideen in eine große Fiktion einzubetten. Und ich glaube, eine Art journalistisches Buch über den Brexit macht wenig Sinn, es wäre auch längst überholt, wenn es dann endlich herauskäme. Aber ich habe nun mal ein primäres Interesse an Politik, und daher interessieren mich all diese Phänomene zurzeit. Das ist ja nicht nur der Brexit, das ist auch Trump. Und München 1938 war vielleicht so ein indirekter Versuch, mit diesen Themen umzugehen, und ja, vielleicht suche ich auch noch einen direkteren Weg, dieses Thema anzugehen. Und wenn ich da etwas finde, dann werde ich das auf jeden Fall tun.
Meyer: "München" heißt der Roman von Robert Harris, aus dem Englischen wurde er übersetzt von Wolfgang Müller. Im Heyne-Verlag ist er erschienen, 590 Seiten, der Preis 22 Euro. Mister Harris, thank you for joining us.
Harris: It's been a pleasure, thank you!
Meyer: Und vielen Dank an Jörg Taszman, der unser Gespräch hier übersetzt hat.
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