Robert Kindler: "Robbenreich"
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Ausbeutung der Peripherie
05:29 Minuten
Robert Kindler
Robbenreich. Russland und die Grenzen der Macht am NordpazifikHamburger Edition, Hamburg 2022464 Seiten
45,00 Euro
Als im 19. Jahrhundert die Pelz-Mode ausbricht, werden Robbenfelle zur umkämpften Ressource: Vor allem Russland und die USA streiten um die begehrten Pelze. Am Beispiel der Robbenjagd schreibt Robert Kindler russische und Weltgeschichte.
Vorschlag zur Güte: Lesen Sie zunächst – erstmals oder noch einmal – Jack Londons Roman "Der Seewolf", dessen Protagonist Wolf Larsen Züge des berüchtigten realen Robbenjägers Alexander MacLean trägt. Und greifen Sie dann, inspiriert von inneren Bildern, zu Robert Kindlers weit spröderem historiographischen Werk Robbenreich – Sie werden MacLean wiedertreffen.
Kindler erzählt die Geschichte der Pelzrobbenjagd zwischen Alaska und Kamtschatka vor allem aus der Perspektive russischer Akteure und erschließt, nach Recherchen auf drei Kontinenten, viele Quellen zum ersten Mal. Er erzählt die Geschichte jedoch nicht nur um ihrer selbst willen. Die Ausbeutung der Region hatte eine globale Dimension, Mikro- und Makrogeschichte fließen ineinander.
Heftige Ressourcenkonflikte
Im Jahr 1867 verkaufte das Zarenreich Alaska an die USA: Zu groß, zu leer, zu aufwendig im Unterhalt, meinte man. Als bald darauf die Pelzmode ausbrach, versprach die Robbenjagd im Nordpazifik eigentlich gewaltige Gewinne.
Doch St. Petersburg gelang es nicht (einmal), die Halbinsel Kamtschatka, die Kommandeurinsel und sonstige russische Küstenregionen ökonomisch zu versorgen, politisch-militärisch zu beherrschen und infrastrukturell zu entwickeln. Die Folge: Staatliche und privatwirtschaftliche Akteure aus den USA, Kanada und später auch Japan stellten Russlands Herrschaftsanspruch in der Region infrage. Zudem machten halblegale Freibeuter („Sealers“) wie MacLean notorisch Probleme.
Der Umgang mit der indigenen, in puncto Robbenjagd lange unverzichtbaren Bevölkerung erwies sich als kompliziert; schon Zeitgenossen sprachen von „Sklaverei“. Letztlich konnte St. Petersburg am Pazifik bis 1917 laut Kindler nur eine „fragmentierte Autorität“ aufrechterhalten. Später bekam die Sowjetunion militärisch alles in den Griff, wandte sich jedoch von der Robbenjagd ab.
Bewusstsein tiefer Trauer
Die Pelzrobben wurden im freien Wasser harpuniert oder an den Küsten erschlagen, fast bis zu ihrer Ausrottung. Lokal schrumpften die Bestände um bis zu 99 Prozent. Schließlich jedoch sicherten multilaterale Artenschutzabkommen, darunter die wegweisende „Fur Seal Convention“ (ratifiziert 1911), das Überleben der Art – wirtschaftliche Interessen verbesserten den Tierschutz.
Auch schon während des Pelzbooms fanden einige Leute das Abschlachten der Robben unsäglich und entwürdigend, darunter der russische Generalstabsoffizier Nikolaj Volosinov, der in den 1880er-Jahren festhielt: „Es ist, als würde sich das Bewusstsein tiefer Trauer, das Bewusstsein eines nicht wiedergutzumachenden Unglücks auf ihren lieblichen, guten Gesichtern widerspiegeln.“
Finger weg von Alaska!
Eingangs des Buches überwiegen Kindlers akademische Erwägungen. Man entwickelt nur langsam plastische Vorstellungen von den komplexen Vorgängen im Robbenreich. Doch wer durchhält, wird belohnt. Kindler erzählt eine sehr spezielle Kolonialgeschichte, die eines mit den allermeisten Kolonialgeschichten teilt: die heillose Ausbeutung der Peripherie durch das Zentrum, ob es in Europa, Nordamerika oder anderen Wohlstandsländern liegt.
Bemerkenswert: Kürzlich hat der russische Duma-Abgeordnete Oleg Matwejtschew von den USA die Rückgabe Alaskas gefordert. Auch ihm sei Robbenreich zur Lektüre empfohlen. Er würde lernen, dass Russland mit seiner östlichen Peripherie eigentlich immer überfordert war. Also, Oleg: Finger weg von Alaska!