Robert Menasse: "Die Hauptstadt"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
460 Seiten, 24,00 Euro
Ein kleines Schwein in Brüssel
In "Die Hauptstadt" von Robert Menasse dreht sich eigentlich alles um die Planung des Festaktes zum 60. Jahrestag der EU. Die Protagonistin stolpert dabei allerdings über ein Karriereprojekt und Intrigen ihrer Kollegen.
Dieses Thema suchte einen Autor. Es gibt Romane über die Bonner Republik wie "Das Treibhaus" von Wolfgang Koeppen, über die Berliner Republik wie Michael Kumpfmüllers "Nachricht an alle". Einen EU-Roman gab es in der deutschsprachigen Literatur noch nicht. Der Autor, den sich das Thema suchte, scheint prädestiniert zu sein, aus dem Brüsseler Universum zu erzählen. Robert Menasse, Jahrgang 1954, gebürtiger Österreicher, befasst sich seit über einem Jahrzehnt schon mit dem Schicksal Europas.
Er verfasste das leidenschaftliche Traktat "Der Europäische Landbote" (2012), bestritt Podiumsdiskussionen und hielt am 21. März 2017 die Festrede zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge im Europäischen Parlament, in der er die konsequente Überwindung der Nationalstaaten forderte. Menasse kennt die Brüsseler Innenwelt auch aus eigener Anschauung. Für geraume Zeit hatte er einen Zweitwohnsitz in Brüssel und dort einen Lieblingsitaliener, die "Rosticceria Fiorentina", der im Roman mit dem vielversprechenden Titel "Die Hauptstadt" auch vorkommt. Robert Menasse ist EU-Spezialist durch und durch. Das ist eine gute Voraussetzung für seinen neuen Roman – aber auch ein Problem.
Kontroverse um europäische Schweinefleischwirtschaft
Dass er mehr will als einen politischen Abbildungsroman, zeigt schon die erste Szene. Sie ist eine Groteske en miniature: Mitten durch die Brüsseler Innenstadt läuft ein kleines Schwein. Dramaturgisch hat es gleich mehrere Funktionen. Es kündigt ein Seitenmotiv des Romans an, die Kontroverse um europäische Schweinefleischwirtschaft, in der Robert Menasses sarkastischer Humor zur Hochform aufläuft. Und das Schwein erlaubt dem Erzähler, die wichtigsten Figuren kurz auftreten zu lassen. Denn sie sind Zufallszeugen des durch Brüssel huschenden Tiers: Die Griechin Fenia Xenopoulou, die das undankbare Amt der europäischen Generaldirektion Kultur innehat und auf eine höhere Karriere brennt. Ihr Liebhaber, der deutsche Kommissionsbeamte Kai-Uwe Frigge.
Der emeritierte Volkswirtschaftler Alois Erhardt, ein hartnäckiger Europa-Utopist, in dem sich Menasses politische Überzeugungen wiederfinden. Der belgische Holocaust-Überlebende David de Vriend. Der Österreicher Martin Susman. Und ein polnischer Auftragskiller, dessen Aktivitäten den Roman mit einer Kriminalstory versorgen, die bis in die NATO und den Vatikan hineinreicht.
Festakt zum 60. Jahrestag der EU
Der Hauptplot dreht sich um die Planung des Festaktes zum 60. Jahrestag der EU: Fenia Xenopoulou verfolgt die spektakuläre Idee, den Festakt mit Holocaust-Überlebenden in Auschwitz abzuhalten. Sie wird über das Karriereprojekt und die Intrigen ihrer EU-Kollegen stolpern. Menasses Romanstoff dehnt sich in die Breite, in verschiedene Erzählstränge, und in die historische Tiefe, indem er unter anderem die Geschichte David de Vriends und seiner im KZ ermordeten Eltern referiert.
Jedes Element für sich ist relevant, unzweifelhaft auch literarisch gelungen. Die Fülle jedoch verleiht dem Roman eine gewisse Indifferenz, als verlöre er seinen inhaltlichen Schwerpunkt aus den Augen. Obwohl glänzend im Einzelnen, haftet Robert Menasses "Die Hauptstadt" im Ganzen etwas ungewollt Technisches an – als werfe der Brüsseler Bürokratieriese seinen Schatten auf dieses literarische Unterfangen.