Robert Rauh: "Die Mauer war doch richtig! Warum so viele DDR-Bürger den Mauerbau widerstandslos hinnahmen"
be.bra Verlag, Berlin 2021
208 Seiten, 20 Euro
Warum der Aufstand gegen den Mauerbau ausblieb
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Der Historiker und Gymnasiallehrer Robert Rauh stellt sich den Fragen seiner Schüler: Warum gab es eigentlich in der DDR keinen Aufstand gegen den Mauerbau? Die Antworten darauf findet auch der ehemalige DDR-Oppositionelle Lutz Rathenow einleuchtend.
Das Buch Robert Rauhs titelt auf dem ersten Blick mit einer Provokation: "Die Mauer war doch richtig!" Beim genauen Hinsehen ist dieser Satz ein Zitat. Einen älteren Mann stört im Besucherzentrum der Mauergedenkstätte Bernauer Straße die Wissensvermittlung eines Lehrers. Auf die Frage eines Schülers, warum denn die Ost-Berliner nicht gegen die Mauer demonstrierten, ruft er aufgeregt dazwischen. Der Lehrer erblasst, der Rufer wird bluthochdruckrot und von seiner Frau aus dem Raum gezogen. Das alles schildert der Autor anschaulich. Das eigentliche Thema des Buches skizziert der Untertitel: "Warum so viele DDR-Bürger den Mauerbau widerstandslos hinnahmen."
Der Autor versucht, es sich nicht zu einfach zu machen, eine Antwort: "Die Angst vor dem scheinbar allmächtigen SED-Staat reicht als alleiniger Grund für die ausgebliebene Revolte gegen den Mauerbau nicht aus. Fotos, die am 13. August und in den folgenden Tagen an der Sektorengrenze aufgenommen wurden, dokumentieren Unsicherheit und Ungläubigkeit. Sie zeigen Menschen, die der Errichtung von Absperrungen entgeistert und entsetzt zusehen. Niemand konnte sich vorstellen, dass die Abriegelung von Dauer sein würde. Man wartete ab – und blieb passiv. (…) Viele hofften, die westlichen Alliierten würden die Grenzschließung nicht einfach hinnehmen."
West-Alliierte sahen keinen Grund zum Eingreifen
Ein Trugschluss – wie schon am 17. Juni 1953 in Ostdeutschland und bei der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes 1956. In Berlin kam 1961 hinzu: Die Position der westlichen Alliierten in der Stadt wurde eher gestärkt. Ihre Bewegungsfreiheit im Ostteil blieb erhalten, die französischen, britischen und amerikanischen Soldaten konnten aus Westberlin zu günstigen Kursen eingetauschte DDR-Mark mitbringen. Und kauften zum Beispiel im Sportkaufhaus am Frankfurter Tor gruppenweise Bälle oder anderes Gerät. Westberlin wurde nie mehr von Propagandakolonnen Ost belästigt, die Zahl der Entführungen dort nahm ab, die Zahl der Mitarbeiter für das MfS und ihre konspirative Zersetzungsaktivitäten allerdings nicht.
Das Buch verschweigt weder die Mauertoten noch dramatische Fluchtsituationen. Auch die Gründe, über den 13.8.1961 nicht nur wütend zu sein, sind plausibel. Im Westen begehrte Berufe wie Ärzte fehlten nach Ausreise in der DDR. Selbst bei der dem eigenen Staat gegenüber kritisch eingestellten Bevölkerung löste das keine Begeisterung aus, nicht nur in Ostberlin. Die in dem Buch mehrfach angesprochenen Ostberliner, die in Westberlin arbeiteten, bildeten ein Berliner Problem, vielleicht noch des Umlandes. In der übrigen DDR erzeugten sie eher Neid als Solidarität. Denn wer Westgeld verdiente, konnte das durch Schwarztausch vervielfachen.
Der Mauerbau offenbarte das Eingeständnis der DDR, im ökonomischen Wettbewerb dem Westen und seinem attraktiven Schaufenster Westberlin nicht mehr Paroli bieten zu können: "Die ostdeutsche Studentin Marianne an ihren westdeutschen Freund am 10.2.1962: 'Seitdem beginne ich die Mauer vor unserer Nase zu hassen, obwohl ich ihre Notwendigkeit nach wie vor einsehe.'"
Ein sorgfältig gemachtes Buch
Gut recherchiert sind die Kapitel über die Künstler und besonders Schriftsteller, von denen viele Hoffnungen auf eine freiere Entwicklung in Kunst und Kultur verbanden. Diese schienen ja vier Jahre lang auch einzutreten. Nicht nur Wolf Biermann, eine ganze neue Generation von Lyrikerinnen und Dichtern bekam öffentliche Resonanz, DEFA-Filme wurden gedreht, die allerdings nach dem 11. Plenum 1965 wieder verboten wurden.
Je mehr man sich in das Buch hineinliest, desto intensiver drängt sich die Frage auf: Was war eigentlich die Mauer, die nicht nur Mauer war? Robert Rauh beweist auf 25 Seiten klein gedruckter Quellenangaben Fleiß und editorische Korrektheit, auch zur Nacht des Mauerbaus. Diese wurde mit beachtlicher Brutalität organisiert und durchgeführt – die Geheimhaltung wirkte durch ihren Erfolg selbst als Einschüchterung. Doch die innerdeutsche Grenze war schon vorhanden, wenn auch nach dem 13. August 1961 in Planungsschüben mit böser Konsequenz ausgebaut.
Brandenburger Tor als Ort für Fotoshootings
Am brutalsten war die Grenze letztendlich dort, wo kein Berlin war. Minenfelder und Selbstschussgeräte existierten nur an der innerdeutschen Grenze – bis Letztere vom Westen wegverhandelt worden sind. Die "Berliner Mauer" war einerseits innerstädtische Grenze, andererseits eine um Westberlin. Fast absurd sind die Bilder vom Brandenburger Tor als Beleg der deutschen Teilung – dem Ort, an dem die Mauer am wenigsten Grenzbefestigungsanlage war; sozusagen ihr Showroom zum genehmigungsfreien Fotografieren.
Bleibt die Frage: Warum kein Aufstand? Die einen sahen keine Notwendigkeit, die anderen hätten die Frage nicht verstanden. Die Panzer der Roten Armee waren echt, es ging nicht um Ulbricht gegen das Volk, sondern um die Sowjetunion, die 1961 ihren Machtbereich sichern wollte, ein Jahr vor der Kubakrise.
Und da Berlin von vier Alliierten verwaltet wurde, hätte jeder gesamtberliner Protest die Grenze auch für Westberlin infrage gestellt. Das Buch von Robert Rauh führt zu anderen zu erzählenden Geschichten: die Erfindung Westberlins als eigenem politischer Raum, gerade auch für übergesiedelte Ossis. Zunächst aber hilft es, die Widersprüchlichkeit historischer Entwicklungen besser zu verstehen – und sich nie zu sicher zu sein, alles schon zu wissen.