Stenogramm einer Künstler-Freundschaft
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Leipzig, 4. November 1847. Die Mendelssohn-Gemeinde trauert um ihren gefeierten Komponisten. Robert Schumann sortiert daraufhin seine seit 1835 festgehaltenen Erinnerungen, notiert in der Art eines Biographen. Erst 100 Jahre später werden sie publik.
Nach dem überraschenden Tod des Komponisten steht die Mendelssohn-Gemeinde unter Schock. Die Trauernden verfassen Nachrufe, Gedichte und Kompositionen. Wer den Verstorbenen kannte, wer mit ihm befreundet war, fühlt sich aufgerufen.
Auch Robert Schumann, der seine Erinnerungen an den Freund ordnet. "Materialien" nennt er diese eng beschriebenen Blätter, die indes erst 100 Jahre später veröffentlicht werden. Sie belegen vor allem Schumanns rückhaltlose Zuneigung und Bewunderung.
Über das Unausgesprochene
Schumanns "Materialien"-Sammlung zur geplanten, am Ende nicht realisierten Gedenkschrift "Erinnerungen an F.[elix] Mendelssohn" ist voll von offenen Worten, die das Innere nach außen krempeln. Sie berühren nicht selten die Grenze zur Verletzung, indem sie sagen, was Mendelssohn als Person der Öffentlichkeit nicht wagte auszusprechen. Schumann plaudert quasi aus, was Mendelssohn so nirgendwo anders hätte hinschreiben können, auch nicht in einen seiner unzähligen "privaten" Briefe.
Die erste Begegnung zwischen Schumann und Mendelssohn
Zum allerersten Mal begegnen sich Mendelssohn und Schumann im Oktober 1834. Mendelssohn, damals noch Städtischer Musikdirektor in Düsseldorf, macht Zwischenstation in Leipzig, da das städtische Gewandhausorchester "Meeresstille und glückliche Fahrt" probt. In der Probenpause tritt die Pianistin Henriette Voigt auf den Komponisten zu. Untergefasst hat sie den jungen Musiker Schumann, der mit 24 tatsächlich sehr jung, andererseits aber doch nur ein Jahr jünger ist als Mendelssohn selbst.
Während jedoch Mendelssohn auf eigenen Füßen steht, zehrt Schumann nahezu gänzlich vom familiären Erbe. Schumann weiß nicht, wie er dem in seinen Augen "wandelnden Musikgott" Mendelssohn Bartholdy gegenübertreten soll – ohne Amt, ohne Würden, angefüllt allenfalls mit guten Kunst-Vorsätzen. Und so bringt er seine ersten Worte an Mendelssohn, er "kenne alle [seine] Compositionen gut!" ein wenig verhaspelt-schülereifrig über die Lippen und markiert so den Beginn einer Künstler-Freundschaft.
Bewunderung durch und durch
In erster Linie ist Schumann beeindruckt von Mendelssohns "ergründendem Blick" auf Partituren. Entgegen des im Kern antisemitischen, vom Komponistenkollegen Richard Wagner lancierten Vorurteils über Mendelssohns mühelose "Glätte", bezeugt Schumann hier dessen geradezu manische "Selbstkritik".
Was ihn aber besonders an Mendelssohn fasziniert, ist, wie sich bei ihm das Kritisch-Kompositionstechnische verbindet mit dem, was er "poetische" Beschreibung nennt und was er so sehr liebt, wenn von Musik die Rede ist.
Unbeschwerte Zeit in Leipzig
Die folgenden Jahre ab 1835 spielen sich in Leipzig vor allem zwischen dem Wohnhaus Mendelssohns, dem Wohnhaus Schumanns, dem Gewandhaus und dem Hotel Bavière ab.
Die Freundschaft der beiden kreist hauptsächlich um die Musik. Kommt Schumann von gemeinsamen Begegnungen oder Treffen nach Hause zurück, greift er nicht selten zur Feder, notiert manchmal nur Stichworte, dann wieder kleine Anekdoten.
Würdigung in der Musik
Mit Mendelssohns Tod am 4. November 1847 scheint das Herz der gebildeten musikalischen Welt still zu stehen. Für Schumann geht eine Epoche zu Ende. Doch vor allem endet für ihn eine Freundschaft. Die Todesnachricht erreicht ihn in Dresden, woraufhin er nach Leipzig eilt.
Ganz im Tonfall der Mendelssohn'schen "Lieder ohne Worte" schreibt Schumann als Nr. 28 seines op. 68, seines "Album für die Jugend", eine Seite Klaviermusik nieder: "Zur Erinnerung an Felix Mendelssohn Bartholdy / gest[orben] d. 4ten November 1847 im 38sten Jahr". Das Thema dazu entlehnt er dem zweiten Lied seines Eichendorff-Zyklus op. 39.
Ausgerechnet der Romantiker Schumann schlüpft bei seinen "Erinnerungen" in die Rolle des abwägenden Dokumentars. Zettel und Gesprächsprotokolle ordnend, hier und da ausarbeitend, Überschriften bildend, um dem Ganzen Namen und Richtung zu geben.
Nüchternheit statt Emotionen
Die Sammlung ist wertvoll, weil sie die Subjektivität, das Ungefilterte bewahrt und Schlaglichter auf ein Denkmal wirft, das für Schumann noch ganz aus Fleisch und Blut besteht, aus Fühlen und Wollen, Begehren und Bedürfnis und letztlich eben auch umgetrieben ist von Befürchtungen, von Ängsten.
Die "Materialien", wie Schumann das nennt, zeigen eine ziemlich offene Themen-Skala: Gott und die Welt, was das Herz betrübt und was es erfreut, Frauen und Literatur – und vor allem Musik. Dank Schumanns Erinnerungen sind wir schließlich auch darüber im Bilde, dass Mendelssohn nicht nur Homer schätzte, sondern auch – Humor.