Robin Wall Kimmerer: "Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen"
Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke
Aufbau Verlag, Berlin 2021
461 Seiten, 24 Euro
Das Prinzip der gegenseitigen Fürsorge
05:17 Minuten
Unser Verhältnis zur Natur muss sich grundlegend ändern. Wie, erklärt die Biologin Robin Wall Kimmerer in ihrer Essaysammlung "Geflochtenes Süßgras". Ein kluges wie berührendes Buch, das erst sieben Jahre nach der Erstausgabe die Bestseller-Listen stürmte.
Am Anfang war ein Sturz: Die Himmelsfrau fällt in die Welt - und wird im Flug aufgefangen von Gänsen, die sie weich absetzen auf dem Panzer einer Schildkröte. Mit diesem Mythos beginnt für die indigenen Völker aus dem Gebiet der Großen Seen in Nordamerika die Schöpfung, ein Prozess voll gegenseitiger Fürsorge.
Für ihr außergewöhnliches Buch "Geflochtenes Süßgras" hätte die Biologie-Professorin Robin Wall Kimmerer keinen passenderen Anfang wählen können. Denn in ihrer Essaysammlung, die 2013 erstmals in den USA erschien, geht es um das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt - und das sollte von Verantwortung geprägt sein, so wie es die indigenen Prinzipien der "Ehrenhaften Ernte" verlangen.
Das Haar der Mutter Erde
Die Autorin überzeugt sowohl inhaltlich als auch stilistisch - mit warmherzigen Episoden über Pflanzen, die stets Sinnbilder im Kleinen für unser Verhältnis zur großen Welt sind. Da ist zum Beispiel das titelgebende Süßgras, dessen vanilleartigen Duft Robin Wall Kimmerer so lebhaft beschreibt, dass man meint, ihn riechen zu können. Viele Stämme der native americans - die Autorin ist selbst Mitglied der "Citizen Potawatomi Nation" - verehren diese Pflanze als Haar der Mutter Erde.
Bevor es vorsichtig geerntet wird - nie mehr als die Hälfte der Halme eines Grasbüschels - bringen die indigenen Frauen der Erde Tabakkrümel als Gegengabe dar. Pflanzen nicht als kapitalistische Ware, sondern als Geschenk in einer wechselseitigen Beziehung von Mensch und Natur: Diese Perspektive eröffnet die Autorin mit ihrem Buch, das fast sieben Jahre unter dem Radar der Presse blieb, bis es dank Mund-zu-Mund-Propaganda von Lesern und Buchhändlerinnen im Februar 2020 die Bestseller-Liste der "New York Times" erreichte. Anderthalb Jahre und 500.000 verkaufte Exemplare später erscheint "Braiding Sweetgrass", so der englische Originaltitel, jetzt übersetzt in neun verschiedene Sprachen.
Wie die "Ehrenhafte Ernte" wirkt
Zu Zöpfen geflochten und getrocknet spielt Süßgras eine wichtige Rolle in Ritualen nordamerikanischer Stämme. Dieses indigene Wissen verwebt Robin Wall Kimmerer mit persönlichen Geschichten und Erkenntnissen aus botanischer Forschung. Als Professorin für Umweltbiologie an der State University of New York erzählt sie von einer Studentin, die untersucht hat, wie sich die "Ehrenhafte Ernte" auf Süßgras-Bestände auswirkt.
Vorab vermuteten alle beteiligten Forscher - außer Kimmerer -, dass die Bestände, von denen geerntet wird, schlechter gedeihen würden als die Büschel, die unberührt bleiben. Doch der Feldversuch bewies tatsächlich das Gegenteil: Dort, wo nach traditionellen Prinzipien geerntet wurde, wuchs das Gras besser als die sich selbst überlassenen Büschel.
Der Einfluss des Menschen kann positiv auf die Natur wirken. Mit diesem Beispiel unterfüttert die Autorin ihren Appell: Wir müssen nicht nur aufhören, der Umwelt zu schaden, sondern Verantwortung übernehmen für das Land, das Wasser und die Luft, etwa, indem wir dazu beitragen, dass verseuchte Seen wieder sauber werden.
Wegweisende Lektüre
Dankbarkeit ist der Kern von Robin Wall Kimmerers Schreiben - und die Vorstellung, dass Tiere und Pflanzen keine Objekte sind, sondern unsere nicht-menschlichen Verwandten. Sie mit Liebe zu behandeln, ihre und unsere Daseins-Grundlage zu bewahren: Das sind Grundsätze, die uns dieses starke Buch aufzeigt. Eine wegweisende Lektüre, zu der man alle verpflichten möchte, die in Politik und Wirtschaft entscheiden, wie es mit unserem Planeten weitergeht.