Roger Norrington dirigiert Vaughan Williams

Ein Sir auf Socken

Dirigent Sir Roger Norrington bei einer Probe mit dem Scottish Chamber Orchestra in der Usher Hall in Edinburgh (aufgenommen am 13.08.2012)
Dirigent Sir Roger Norrington bei einer Probe mit dem Scottish Chamber Orchestra in der Usher Hall in Edinburgh (aufgenommen 2012) © imago/United Archives International
Von Philipp Quiring |
"Dirigieren im Sitzen ist ein Vorzug des Alters", sagt der 81-jährige Roger Norrington. Ohne Schuhe sitzt er dann auch bei den Proben mit dem Deutschen Sinfonieorchester Berlin für eine Aufführung aus dem Ralph Vaughn Williams-Zyklus.
"Musik steht immer für etwas: für Herz, Landschaften, Klang", sagt Roger Norrington und fügt in Bezug auf seinen Lieblingskomponisten hinzu: "Alle Sinfonien von Ralph Vaughan Williams sind in irgendeiner Weise programmatisch - wie jeder einzelne Takt bei Mahler."
Einige Male habe er Vaughan Williams selbst getroffen, denn sein Vater war der Verleger von Vaughan Williams. Und er habe als Geiger einige Male im Orchester in Sheldonian Theatre in Oxford unter Vaughans Williams gespielt. Er erinnert sich an einen "sehr beeindruckenden" Mann.
Die sechste Sinfonie schrieb Vaughan Williams 1944, die Uraufführung war vier Jahre später. Eine "Kriegssinfonie" sei dieses Werk, urteilte ein Journalist, doch Vaughan Williams widersprach. "Es scheint den Leuten nie in den Sinn zu kommen, dass ein Mensch vielleicht nur gerne ein Musikstück schreiben möchte!" Und doch spricht diese Sinfonie eindrücklich von der inneren Bedrängnis, der Not und der Zerstörung während der Kriegsjahre. Und in diesem Sinn versteht sie wohl auch Roger Norrington als "programmatisch": nicht als Bilderbogen, sondern als musikalische Verarbeitung der Verhältnisse.
"Ich kann diese Musik nicht hören ohne eine Geschichte zu sehen und zu hören, meine Geschichte, die meiner Väter. Der 1. Satz spricht von einer Unruhe der 30er-Jahre, seiner 4. Sinfonie folgend, und etwas ganz Gefährliches ist in der Welt. Und auch ein Traum einer besseren Welt, eine wunderbare Melodie. Man denkt aus den Landschaften Englands eine sehr sehr schöne Melodie. Das ist der 1. Satz, auch voll von Jazz, voll von amerikanischer Musik. Das ist wirklich erstaunlich, aber er war sehr beeindruckt von Jazz und Hollywood und Film. Der 2. Satz ist sehr furchterregend. Es ist für mich ein Bildnis von dem 'Untermensch' und dem 'Übermensch': die Gestapo und die Juden. Der 'Untermensch' weinend und die Wehrmacht- mit Kraft und sehr hässlich."
Der 3. Satz: die Deutschen sind nicht schrecklich, die Amerikaner und die Briten sind schrecklich! Es ist ein Angriff. Fünf Jahre lang haben wir die Städte Deutschlands angegriffen. Das war auch hässlich und auch schrecklich und da hört man 'Datata' 'Datata' von den Maschinen und man hört auch ein Saxofon: die Amerikaner sind da, die American U.S. Airforce bei Tag und die British Airforce bei Nacht - ein schreckliches Scherzo, ein Totentanz.
4. Satz ist pianissimo vom Anfang bis zum Ende - nichts lebt! Ein Tag nach Dresden, ein Tag nach Hiroshima: Nichts! Sehr traurig, sehr leer! Und auch sehr schön. Also es ist wirklich ein Statement, ein 'political statement' diese Sinfonie und er sind sehr politisch."
Ein politisches Statement, das Roger Norrington bewegt und bewegend umsetzt. Nach der Aufführung in Berlin wird er sich nun den nächsten Sinfonien von Vaughan Williams zuwenden. Die 7. Sinfonie steht an, die als Filmmusik "Sinfonia Antartica" ebenfalls programmatisch gedacht ist. Die letzten beiden entsprechen dann dem Wunsch Vaughan Williams nach "nur Musik, ohne Programm".
(Anmerkung: Dieser Text weicht von der gesendeten Version ab.)
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