Roger Willemsen: "Der Knacks - LIVE"
tacheles!, Bochum 2020
1 CD, 19 EUR
Eine vertraute Stimme
04:51 Minuten
Sieben Jahre vor seinem Tod las Roger Willemsen aus seinem Buch "Der Knacks". Aus der Aufnahme entstand ein eindringliches Hörbuch, sagt unser Rezensent. Willemsen denkt darüber nach, wie die vielen kleinen Risse im Leben unsere Biografie prägen.
"Man kann ganz gut unterscheiden zwischen der Schlappe, dem Unglück, dem Scheitern, der Einbuße, dem Verlust, der überwunden werden kann. Aber der Knacks ist etwas anderes."
Der Knacks ist für Roger Willemsen ein Prozess, dem ein einschneidendes Erlebnis vorausgeht, der das Leben in andere Bahnen lenkt.
"Ich meine: Ein Abfallen der Lebenstemperatur, ein erstes Verschießen der Farben, etwas wie Appetitlosigkeit machte sich breit. An ihrem Anfang stand kein Schock und kein Trauma. Es gab kaum mehr als einen Anlass, was folgte, war der Knacks."
Er ist etwas, das bleibt, und etwas, das uns fortwährend verändert. Die Patina des Lebens, der Übergang von Verlust zu Schmerz, von Leiden in die Trauer. Gezeichnet vom Leben.
"Der Knacks aber ist nicht ein Riss mit Diesseits und Jenseits, mit Vorher und Nachher, er ist unmerklich, er teilt nicht, er prägt."
Vertraute Stimme und kluger Humor
In seinem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 2008 spürt Roger Willemsen dieser oftmals psychologischen Entwicklung nach. Der ursprünglich 300-seitige literarischen Essay ist nun als einstündiges Hörbuch erschienen, die gekürzte Version einer Lesung vom Autor selbst auf dem Literaturfestival lit.Cologne 2009.
"Mein Vater starb letzten August. Das ist jetzt bald vierzig Jahre her. Der Tag war so heiß, dass die Vögel unter den Blättern blieben und alles ringsum sich verlangsamte. Wir dachten an die Hitze des Krankenzimmers, des Krankenbetts, in dem der inzwischen zu einem dünnen Herrn zusammengeschmolzene Mann seinen Tod erwartete."
Mit seiner vertrauten und immer auch vertrauenserweckenden Stimme, die wir aus unzähligen Fernseh- und Hörfunk-Auftritten kennen, erzählt Roger Willemsen eindringlich und intelligent von Erfahrungen, die Bruchstellen im Leben darstellen. Es sind einschneidende Anekdoten, trocken und mit Bedacht vorgetragen, in denen auch sein kluger Humor mitschwingt.
"Der Blick flimmerte. Manchmal schloss sie die Augen und wirkte, als fische sie mit einem Schleppnetz in den eignen Erinnerungen. Wie geht es Ihnen? Das konnte sie sagen. Ich fragte: Wie war Ihre Nacht? Ja, ich hab geschlafen. Ich hab, hat sie gesagt, sagt sie, hat sie gesagt, sagt sie, hat sie gesagt, sagt sie, hat sie gesagt, sagt sie, ich hab gestern noch als ich einschlief, hat sie gesagt, sagt sie, hat sie gesagt, sagt sie, hat sie gesagt, sagt sie, hat sie gesagt, sagt sie, hat sie gesagt, sagt sie."
Psychologische Beobachtungen
An dieser Stelle wird er am deutlichsten hörbar: Der Knacks als entrückte, zutiefst menschelnden Prägung. Solche psychologischen Beobachtungen treffen auf autobiographische Reflexionen. Leicht melancholisch, aber auch mutmachend, werden sie aufgefangen von sanften Klavierstücken. Frank Chastenier saß bei dieser Live-Aufführung am Flügel. Den Chanson-Klassiker "Ne Me Quitte Pas" von Jacque Brel dehnt er etwa in die Unendlichkeit. In jeder Tonfolge: Trennung, Leiden, Knacks.
Posthum bekommt das Hörbuch "Der Knacks" noch mal eine ganz andere Note: Als scharfsinniger Intellektueller fehlt uns Roger Willemsen, sein Tod wurde für so manch einen vielleicht selbst zum Knacks. Aber sein Vermächtnis lenkt nun den Blick auf all den wundersamen Wandel in unseren eigenen Biographien. Ein eindringliches, ein sehr gutes Hörbuch!
"Hier eröffnet sich eine Aussicht, den Menschen in seinem Knacks zu retten, ihn im Scheiden wachsen zu sehen."